Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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und sich von anderen Teilen entfremdet. Das Ich ist die Funktion des Selbst, die dem Individuum das Gefühl vermittelt, aktiv und absichtsvoll zu sein. Diese Intentionalität wird vom Selbst spontan ausgeübt, das sie mit Stärke, Bewusstheit, Erregung und der Fähigkeit entwickelt, neue Gestalten zu schaffen. »Es ist absichtsvoll, im aktiven Modus, sensorisch wach und motorisch aggressiv und sich seiner Selbst unabhängig von der Situation bewusst« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 220). Gemäß dem Werk Gestalttherapie sind es genau diese charakteristischen Merkmale der Ich-Funktion, die uns dazu bringen, dass wir das Ich als Agens des Erlebens betrachten. Haben wir diese Abstraktion erst einmal vorgenommen, denken wir uns die Umwelt nicht länger als einen Pol von Erfahrung, sondern als eine weit entfernte Außenwelt, sodass wir Ich und Umwelt leider nicht als Teile ein und desselben Ereignisses sehen. Die Ich-Funktion arbeitet auf der Grundlage der Information, die von allen anderen Strukturen des Selbst geliefert wird. Die Fähigkeit, spontan zu entscheiden, wird in Übereinstimmung mit der Fähigkeit ausgeübt, mit der Umwelt in Kontakt zu treten, und zwar durch das, was als »innerhalb der Haut« wahrgenommen wird (Es-Funktion), und was durch die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« definiert wird (Persönlichkeits-Funktion). Es ist die Fähigkeit zu introjizieren, zu projizieren, zu retroflektieren und vollständig in Kontakt zu treten.

      An dieser Stelle ist ein didaktisches Beispiel hilfreich. Ein Gefühl, normalerweise als einheitliches Phänomen wahrgenommen, lässt sich gemäß den verschiedenen Funktionen des Selbst beschreiben. Der Es-Funktion entsprechend werden die Muskeln beim Erleben eines Gefühls als entspannt oder angespannt, die Atmung als frei und offen oder eingeschränkt wahrgenommen. Die Persönlichkeits-Funktion definiert das Gefühl als Teil des Selbst (»Ich gehöre zu den Menschen, die solche Gefühle haben«). Die Ich-Funktion ermöglicht das Entstehen von Erregung im Zusammenhang mit dem Gefühl, zum Beispiel durch Introjektion (das Erleben wird als »Ich bin bewegt, das ist in Ordnung für mich« definiert), durch Projektion (man bemerkt, dass auch in der Umwelt Erregung existiert, indem man z. B. sagt »Ich kann sehen, dass auch andere Menschen bewegt sind«), oder durch Retroflexion (man vermeidet vollständigen Kontakt mit der Umwelt, indem man sich zurückzieht oder die Energie auf das Selbst richtet und z. B. sagt: »Ich möchte alleine damit fertig werden«).

      Die Begründer der Gestalttherapie beschreiben diese Ich-Funktionen einerseits als Fähigkeit, in Kontakt zu treten, andererseits als Widerstand dagegen (Verlust der Ich-Funktionen). Dieser doppelte Gebrauch der oben angeführten Begriffe zeigt eine grundlegende Übereinstimmung mit den epistemologischen Prinzipien der Gestalttherapie, die gesunde und pathologische Prozesse nicht voneinander trennt. Die Verwendung desselben Begriffs für Normalität und Psychopathologie mag jedoch zu Verwirrungen führen, wenn man sich nicht eingehend mit den epistemologischen Prinzipien von Prozess und Phänomenologie der gestalttherapeutischen Theorie des Selbst beschäftigt hat.

      3.8 Das Erleben von Kontakt – Rückzug aus dem Kontakt

      Die Aufmerksamkeit die dem Prozess in der Gestalttherapie gewidmet wird, führt uns dazu, die Entwicklung des Kontakterlebens zu beobachten und so die zeitliche Dimension in Betracht zu ziehen. Tatsächlich sieht normales gesundes Erleben folgendermaßen aus:

      Man ist entspannt, es gibt vieles, womit man sich beschäftigen könnte, alles wird akzeptiert und bleibt ziemlich vage – das Selbst ist eine »schwache Gestalt«. Dann übernimmt ein Interesse die Führung, und die Kräfte werden spontan aktiviert, bestimmte Bilder werden prägnanter, und Bewegungsreaktionen werden ausgelöst. An diesem Punkt werden meist auch bestimmte absichtliche Selektionen und Entscheidungen erforderlich. »[…] Das heißt, daß der gesamten Funktionsweise des Selbst Grenzen auferlegt werden, und dabei vollziehen sich gemäß diesen Grenzen Identifikationen und Entfremdungen. […] Und auf dem Höhepunkt der Erregung wird die Intentionalität schließlich losgelassen, und die Befriedigung ist wiederum spontan.« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 219).

      Das Selbst wird als Kontaktprozess und als Rückzug aus dem Kontakt definiert. Dieser Prozess führt zu einer Ausdehnung des Selbst, bis es die Kontaktgrenze mit der Umwelt erreicht und sich nach der Fülle der Begegnung zurückzieht. Das Kontakterleben wird in Gestalttherapie als eine Entwicklung beschrieben, die in vier Phasen abläuft: Vorkontakt, Kontaktaufnahme, Kontaktvollzug und Nachkontakt. Jede von ihnen betont einen anderen Aspekt der Figur/Hintergrund-Dynamik.

      Die Aktivierung des Selbst wird Vorkontakt genannt. Damit ist der Moment gemeint, in dem Erregungen entstehen, die den Figur/Hintergrund-Prozess in Gang setzen. Nehmen wir als Beispiel für die Entwicklung des Selbst das Hungergefühl. Im Vorkontakt wird der Körper als Hintergrund wahrgenommen, während die Erregung (Hungergefühl) die Figur darstellt. In der darauffolgenden Phase, der Kontaktaufnahme, weitet sich das Selbst in Richtung der Kontaktgrenze mit der Umwelt aus. Dabei folgt es der Erregung, durch die es in einer Sub-Phase der Orientierung dazu animiert wird, die Umwelt auf der Suche nach einem Objekt oder einer Reihe an Möglichkeiten zu untersuchen (Nahrung, verschiedene Nahrungsmittel). Das gewünschte Objekt wird nun zur Figur, während sich das ursprüngliche Bedürfnis oder der ursprüngliche Wunsch in den Hintergrund zurückzieht.

      In einer zweiten Subphase der Manipulation »manipuliert« das Selbst die Umwelt, indem es bestimmte Möglichkeiten wählt und andere ablehnt (es wählt zum Beispiel herzhafte, heiße, weiche Nahrung, die reich an Proteinen ist). Außerdem wählt es bestimmte Teile der Umwelt aus und überwindet Hindernisse (es sucht z. B. aktiv nach einem Restaurant, einer Bäckerei, einer Gaststätte, wo es die gewählte Nahrung finden kann).

      In der dritten Phase, dem Kontaktvollzug, wird der Kontakt als endgültiges Ziel zur Figur, während die Umwelt und der Körper den Hintergrund bilden. Das Selbst ist vollständig an der spontanen Handlung beteiligt, mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Die Bewusstheit ist groß, das Selbst ist vollständig an der Kontaktgrenze mit der Umwelt gegenwärtig (die Nahrung wird zerkaut, geschmeckt, genossen) und die Fähigkeit zu wählen ist entspannt, weil es im Moment nichts auszuwählen gibt. In dieser Phase findet der nährende Austausch mit der Umwelt, mit dem Neuen, statt. Er wird, wenn er erst assimiliert ist, zum Wachstum des Organismus beitragen.

      In der letzten Phase, dem Nachkontakt, wird das Selbst schwächer. So hat der Organismus die Möglichkeit, das Neue zu verdauen und es weitgehend unbewusst zu assimilieren und in die vorhandene Struktur zu integrieren. Der Prozess der Assimilation verläuft immer unbewusst und unwillkürlich (wie die Verdauung). Er kann soweit bewusst werden, dass diese Bewusstheit eine Störung darstellt. Aus diesem Grund schwindet das Selbst in dieser Phase normalerweise und zieht sich von der Kontaktgrenze zurück.

      Das Kontaktsystem des Selbst ist komplex, und das eben erläuterte Beispiel wird dieser Komplexität selbstverständlich nicht gerecht. Diese Kontakte sind fortwährend auf verschiedenen Ebenen aktiv und bilden das aktuelle Erleben des Individuums. Man kann ein Buch lesen (geistiger Kontakt) und dabei in einer Hängematte liegen (selbstverständlicher Kontakt, es sei denn, die Hängematte dreht sich um), den Vögeln beim Singen zuhören (akustischer Kontakt), den Duft der Blumen riechen (olfaktorischer Kontakt) und die Wärme der Sonne genießen (kinästhetischer Kontakt). In diesem komplexen System aus Kontakten ist der Organismus jedoch meist auf einen bestimmten Kontakt fokussiert – nämlich auf den einen, den er wählt und mit dem er sich identifiziert, um zu wachsen. Das kann z. B. das Lesen des Buches sein, wenn das aufkommende Bedürfnis mit geistigem Wachstum zu tun hat, oder das Lauschen des Vogelgesangs, wenn der akustische Kontakt Gefühle und Gedanken hervorruft, die in diesem Moment wichtig sind.

      An diesem Punkt müssen wir einräumen, dass die in dem Standardwerk Gestalttherapie (Perls / Hefferline / Goodman 2006) zu beobachtende mangelnde Differenzierung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Umwelt eine wichtige Einschränkung der Theorie des Kontakterlebens darstellt (siehe Robine 2006a). Das Revolutionäre dieser Theorie besteht darin, dass sie Kontakt von der Position der Zwischenheit, der Kontaktgrenze, aus betrachtet. Eine absolut notwendige Entwicklung ist die genaue Beschreibung des Unterschieds zwischen dem Beitrag einer (nicht menschlichen) Umwelt, die nicht reagiert, und dem

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