Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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Begrenztheiten mitbringen, spontan aufeinander ein, in eine Beziehung, die durch ihre komplementären Rollen klar definiert ist: Eine(r) gibt eine Behandlung und der/die Andere bekommt sie.

      Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Situation, die Isadore From gerne schilderte: Ein Patient erzählte ihm von einen Traum und begann mit den Worten: »Ich hatte letzte Nacht einen kleinen Traum.« Isadore From war ziemlich klein gewachsen. Bei seinen PatientInnen rief diese Tatsache Reaktionen hervor, die sie meist nicht zeigten, »wohlerzogen« wie sie waren. From war sich seiner Beschränkung vollkommen bewusst, als er auf den einleitenden Satz des Patienten erwiderte: »Ja! Klein, so wie ich.« Den Patienten machte dieser kleine Scherz zunächst betroffen. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, unhöflich zu sein. Dann brach er in befreiendes Gelächter aus. Er atmete tiefer und konnte nun mit Gefühlen der Zärtlichkeit und des Vertrauens in den Kontakt mit seinem Therapeuten treten – Gefühle, die er vorher blockiert hatte. Es war diese Begegnung zwischen Therapeut und Patient, in der Menschlichkeit ihrer Beschränkungen, die es dem Patienten ermöglicht hatte, seine verborgensten Gefühle zu offenbaren und sich in der Beziehung zu öffnen, mit einem Gefühl des Vertrauens in den anderen, das ihm bisher nur schwer zu erleben möglich war. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die Behandlung nach dem Verständnis der Gestalttherapie in der realen Begegnung zwischen zwei Menschen entsteht. Bei dieser Begegnung taucht etwas Neues auf, das die Fähigkeit des Patienten wiederherstellt, in Kontakt zu treten.

      Eine ähnliche Ansicht finden wir bei Stern (2004; Stern et al. 2003), der die »persönliche Handschrift« einer TherapeutIn bei einer Intervention als einen wichtigen Faktor für psychotherapeutische Veränderungen betrachtet. Damit meint er ein bestimmtes Lächeln, eine bestimmte Art zu sprechen oder die PatientIn anzusehen: Sie gibt der PatientIn das Gefühl, dass dies die Art ist, wie die TherapeutIn sich mit einem wichtigen Menschen in ihrem Leben befasst.

      3.3 Die Rolle der Aggression im sozialen Kontext und das Konzept der Psychopathologie als nicht unterstütztes Ad-gredi9

      In seinem intuitivem Verständnis von Kindheitsentwicklung betont Fritz Perls das Element des Dekonstruierens, des Zerkleinerns, das mit dem Wachstum der Zähne einhergeht (dentale Aggression, Perls 1942). Dabei geht er davon aus, dass die menschliche Natur fähig ist, sich selbst zu regulieren. Diese Auffassung zeichnet sicherlich ein positiveres Bild als die mechanistische Vorstellung vom Menschen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet war (und die vor allem in der Freudschen Theorie deutliche Spuren hinterließ). Die Fähigkeit des Kindes zu beißen unterstützt und begleitet seine Fähigkeit, die Realität zu dekonstruieren. Diese spontane positive Aggression erfüllt nicht nur eine Überlebensfunktion, sondern ist auch von gesellschaftlicher Bedeutung. Sie macht es dem Individuum möglich, sich eigenständig das in seiner Umwelt zu beschaffen, was seine Bedürfnisse befriedigt, und es seiner Neugierde entsprechend zu dekonstruieren.

      Die physiologische Erfahrung des Ad-gredi10 fördert die umfassende reorganismische Erfahrung, auf den anderen zuzugehen. Sie verlangt nach Sauerstoff, d. h. sie muss durch das Ausatmen ausgeglichen und unterstützt werden. Das Ausatmen ist ein Moment des Vertrauens gegenüber der Umwelt, in dem der Organismus sich entspannt und die Kontrolle abgibt, um spontan und selbstregulierend einen weiteren Atemzug zu tun und den Körper mit neuem Sauerstoff zu versorgen.

      Das Aussetzen der Kontrolle, wo man sich dem anderen oder der Umwelt überlässt, ist das fundamentale Signal für den Rhythmus von Vertrauen und Kontrolle, damit dieser spontan ablaufen kann. Dies ist die Vorbedingung dafür, dass ein zweiter Rhythmus möglich wird, jener von Kreativität und Anpassung, der die aktive und die zurückgenommene Präsenz ausbalanciert, indem er das konstitutiv Neue im Kontakt mit dem anderen assimiliert.

      Wenn diese Unterstützung durch den Sauerstoff ausbleibt, wird aus Erregung Angst. Die gestalttherapeutische Definition von »Angst« lautet »Erregung minus Sauerstoff«. Es fehlt die physiologische Unterstützung, um den anderen/die andere zu erreichen. Der Kontakt kommt in jedem Fall zustande (er kommt immer zustande, solange es das Selbst gibt oder solange es Leben gibt), doch die Erfahrung ist von Angst geprägt (Spagnuolo Lobb 2005d; vgl. Ruella 2001). Dies impliziert eine gewisse Desensibilisierung der Kontaktgrenze: Um die Angst nicht zu spüren, ist es notwendig, die Sensibilität im Hier und Jetzt des Kontaktes mit der Umwelt teilweise schlafen zu lassen. Die Folge ist, dass das Selbst nicht vollständig fokussiert werden kann, die Achtsamkeit nimmt ab und der Akt des Kontakts verliert seine Achtsamkeit und Spontaneität.11

      Aus diesem Grund beobachtet die GestalttherapeutIn den körperlichen Prozess der PatientIn im Kontakt. Stellt sie fest, dass die PatientIn nicht vollständig ausatmet, während sie sich auf ein wichtiges Erleben konzentriert, regt sie sie an auszuatmen. Die TherapeutIn weiß, dass die PatientIn auf der physiologischen Ebene gerade eine Erregung ohne Sauerstoff erlebt. Sie weiß auch, dass die PatientIn in diesem Moment vom therapeutischen Kontakt abgelenkt ist und nichts Neuartiges in sich aufnehmen kann, das darin enthalten ist. Der therapeutische Kontakt kann also nicht ohne die Unterstützung durch Sauerstoff funktionieren, da Veränderung nach Auffassung der Gestalttherapie alle geistig-körperlichen und beziehungsbezogenen Prozesse betrifft. Die PatientIn sollte daher zum Ausatmen ermuntert werden. So wird ihr die Unterstützung durch den Sauerstoff zuteil und sie kann das Neue im therapeutischen Kontakt akzeptieren.

      Die Gestalttherapie verbindet also auf wunderbare Art und Weise die »animalische« und die »soziale« Seele, die in der philosophischen Kultur der westlichen Welt über Jahrhunderte hinweg als unvereinbare Gegensätze betrachtet wurden: Wenn der Kontakt ein übergeordnetes Motivationssystem ist, gibt es keine Trennung zwischen dem instinktiven Überlebenstrieb und dem sozialen Wunsch nach Gemeinschaft.12

      Der Akzent, den die Gestalttherapie auf das Beziehungsgefüge legt, hat also im Zusammenhang mit der Selbstregulierung (zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion) des Austauschs zwischen Organismus und Umwelt eine anthropologische Wertigkeit. Im Hinblick auf die Annahme, dass Kreativität das »normale« Ergebnis der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft ist, hat er eine sozio-politische Wertigkeit. Die kreative Anpassung ist tatsächlich das Ergebnis dieser spontanen Überlebenskraft, die es dem Individuum ermöglicht, sich vom sozialen Kontext abzugrenzen und gleichzeitig ein vollwertiger und wichtiger Teil dieses Kontextes zu sein. Jedes menschliche Verhalten, selbst pathologisches Verhalten, wird als kreative Anpassung betrachtet.

      Das Konzept des Ad-gredi findet seinen gestalttherapeutischen Niederschlag in der Bildung der Kontaktgrenze.

      3.4 Die einheitliche Beschaffenheit des Organismus/Umwelt-Felds, Spannung zum Kontakt und das Entstehen der Kontaktgrenze

      Laut der gestalttherapeutischen Perspektive sind Individuum und soziale Gruppe, Organismus und Umwelt keine getrennten Einheiten, sondern Teil einer einzigen Einheit in wechselseitiger Interaktion. Folglich sollte man die Spannung, die möglicherweise zwischen ihnen herrscht, nicht als Ausdruck eines unlösbaren Konfliktes, sondern als die notwendige Bewegung innerhalb eines Felds betrachten, das Integration und Wachstum anstrebt.

      Unser phänomenologischer Geist hält uns vor Augen, dass wir nicht aus einem Feld (oder einer Situation) aussteigen können, in dem wir uns befinden. Er gibt uns Werkzeuge an die Hand, mit denen wir arbeiten können, während wir innerhalb der Grenzen verharren, die uns die an diese Situation gebundene Erfahrung auferlegt. Die Begründer der Gestalttherapie propagierten von Anfang an die »kontextuelle« Methode (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 43 f.), die, viele Jahre vor Gadamer, von einer hermeneutischen Zirkularität zwischen der LeserIn und dem Buch ausging: »Der Leser steht also scheinbar vor einer unmöglichen Aufgabe: Um das Buch zu verstehen, muß er die ›gestaltorientierte‹ Mentalität schon haben, und um sie zu erwerben, sich diese anzueignen, muß er das Buch verstehen« (ebd., 12).

      Die Gestalttherapie entleiht das Konzept der »Intentionalität« (Husserl 1965) aus der Phänomenologie.

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