Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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Blick«.

      • 1990 bis 2010:

      Was die Befindlichkeit der Gesellschaft anging, so führten das Interesse an Technologie (eine Ressource, die heute als selbstverständlich angesehen wird) und die Ambivalenz der eigenen Wertigkeit gegenüber zu einem »Gefühl der Flüchtigkeit« (sense of liquidity), wie Bauman (2000) es so treffend ausdrückt. Die Kinder der »Borderline-Gesellschaft« erlebten einen Mangel an vertrauten konstituierenden Beziehungen: Die Eltern waren nicht da, teilweise weil sie arbeiteten (schließlich war »Technologie« der von der Gesellschaft verbreitete Wert) und sich Sorgen wegen des drohenden sozialen Abstiegs machten, teilweise aber auch, weil sie auf der Beziehungsebene inkompetent waren (die Borderline-Ambiguität wird mit emotionaler Distanziertheit über dem Nachwuchs ausgeschüttet). Außerdem wuchs die Generation dieser zwanzig Jahre in einer Phase großer Migrationsbewegungen auf. Diese führten dazu, dass sich viele Menschen nicht mehr auf generationenübergreifende Traditionen stützen konnten, die ihnen ein Gefühl des Verwurzelt-Seins vermittelt hätten (Spagnuolo Lobb 2011b).

      Viele Traditionen gehen verloren, die Dorfplätze sind durch die virtuellen »Plätze« der sozialen Netzwerke ersetzt worden. Das soziale Erleben der jungen Menschen von heute ist »flüchtig«: Unfähig, die Erregung über die Begegnung mit dem/der anderen für sich zu behalten, sind sie extrem offen gegenüber den Austauschmöglichkeiten, die die Globalisierung der kommunikativen Ströme bietet. Stellen Sie sich ein Kind vor, das Hausaufgaben macht: Wenn es Schwierigkeiten hat, muss es festgehalten werden und braucht Zuspruch, um das Problem mithilfe der Energie zu lösen, die es aufmuntert. Doch da ist kein Ansprechpartner zu Hause, niemand, der dem Kind als begrenzende Mauer helfen könnte zu verstehen, was es fühlt und was es will. Also geht es ins Internet, wo eine Suchmaschine die Lösung liefert.

      Seine Erregung wird über die ganze Welt verbreitet und es findet jede erdenkliche Antwort, doch nicht das Containment einer Beziehung, keinen menschlichen Körper, sondern nur einen kalten Computer, der das Kind nicht umarmen kann. Aus der unbeschränkten Erregung wird Angst. Diese Angst ist verstörend, und um sie nicht spüren zu müssen, muss der Körper desensibilisiert werden. Aus diesem Grund haben wir es heute mit so vielen Angststörungen (wie Panikattacken7, PTBS etc.) zu tun, mit Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen, mit Pathologien im Zusammenhang mit der virtuellen Welt, mit körperbezogener Desensibilisierung. Unsere PatientInnen, besonders die Jüngsten unter ihnen (wie jeder weiß, der mit Jugendlichen oder jungen Paaren arbeitet) sagen Dinge zu uns wie: »Ich hatte das erste Mal mit einem Jungen Sex, doch ich habe nichts dabei gefühlt«, »Online in einem Chat fühle ich mich frei, aber ich weiß nicht, worüber ich mit meiner Freundin reden soll«, »Niemand interessiert mich so wirklich« oder »In unseren Flitterwochen hat mir mein Ehemann gesagt, dass er schon lange mit einer anderen Frau zusammen ist.« Es treten Formen des Unwohlseins auf, die mit einer Gefühllosigkeit des Körpers im Zusammenhang stehen, wie sie in der Beziehung auftritt.

      Die TherapeutIn reagiert darauf, indem sie den physiologischen Prozess des Kontaktes (das Es der Situation, wie Robine (2006a) es ausdrückt) fördert: »Atmen Sie und fühlen Sie, was an der Grenze passiert«. Außerdem unterstützt sie den Hintergrund des Erlebens: Sie findet heraus, wie (durch welche Kontaktmodalität) die PatientIn die Gestalt (oder das Problem) aufrechterhält. Mit anderen Worten: Die TherapeutIn konzentriert sich nun auf die Unterstützung des Kontaktprozesses, und zwar an dem Punkt, wo sie einst ihre Aufmerksamkeit auf die Unterstützung einer egoistischen Individualität richten musste, damit sie sich gegen andere Individualitäten durchsetzen konnte. Man könnte es auch so ausdrücken: Wenn gesund zu sein früher implizierte, herauszufinden, warum jemand gewinnt und siegreich aus dem Lebenskampf hervorgeht, so bedeutet es heute, die Wärme in intimen Beziehungen und die emotionale und körperliche Reaktion auf den/die Andere(n) zu erleben. In Gruppen unterstützt die TherapeutIn jene harmonische Selbstregulierung, die beim (Er)Leben eines horizontalen (gleichwertigen) Kontexts entsteht, in dem man atmen und sich gegenseitig Unterstützung bieten kann.

      2. Entwicklung der Grundwerte: Die Bedeutung der Hermeneutischen Methode

      Die Gestalttherapie hat ihre maximale Verbreitung also in einem kulturellen Moment erreicht, der als »postmoderner Zustand« definiert wird (Lyotard 1979). Ein charakteristisches Merkmal dieses Zustands der Bewertung der auf das Ego bezogenen Kreativität war die Kritik an a priori gesetzten Werten, die von Kriterien außerhalb des Erlebens des Individuums vorgegeben wurden, und das sich daraus ergebende Bedürfnis, sich von den traditionellen Bezugspunkten der Nachkriegskultur zu lösen (der »Fall der Götter«), und zwar auf Kosten eines »Sich-auf-die-Umwelt-Einlassens« oder auch »Sich-auf-emotionale-Bindungen-Einlassens«. Dies war zweifellos eine notwendige Phase, um angesichts einer sozialen Achse zwischen Autoritarismus einerseits und Abhängigkeit andererseits persönliche Autonomie zu erreichen.

      In den 80er-Jahren herrschte reges Interesse an Beziehungen. Damals brachten einige Philosophen das »schwache Denken« (Vattimo / Rovatti 1983) ins Gespräch. Danach bietet die Freiheit von a priori bestimmten Paradigmen eine Möglichkeit, neue und völlig unabhängige Sicherheiten zu schaffen, die nicht von Werten belastet sind, die weitergegeben wurden und deshalb nicht die eigenen sind. Es war eine Frage des Glaubens an das Unsichere, der Bejahung des Wertes der »reinen« Beziehung, die neue Lösungen aus eben dieser Unsicherheit des flüchtigen Moments hervorbringen kann. Das schwache Denken formulierte den gestalttherapeutischen Glauben an das Jetzt und an die kreative Kraft des Selbst-in-Kontakts sehr treffend. Wie konnte man nicht von der Aussicht fasziniert sein, aus dem »Nichts«, aus der bloßen Beziehung, neue Lösungen für die PatientIn entstehen zu lassen? All die Erwartungen der GestalttherapeutInnen, durch ihre reine Anwesenheit und gemeinsam mit der PatientIn Lösungen zu finden, für die man keine Analyse der Vergangenheit brauchte, wurden hierdurch positiv konnotiert. Viele Gestalt-AutorInnen, ich selbst eingeschlossen, betonten die positive Bedeutung der Unsicherheit im Vergleich zur falschen Sicherheit, die durch schematische Systeme aufkam. Staemmler (1997a, 45) schreibt zum Beispiel, dass die Kultivierung der Unsicherheit ein Grundprinzip der GestalttherapeutIn sein sollte, und Miller (1990) hebt den Wert der Psychologie des Unbekannten hervor. Ich persönlich habe das Konzept der improvisierten Ko-Kreation geschaffen (Spagnuolo Lobb 2003b, 2010b), als Gegenstück zum Konzept des impliziten Beziehungwissens von Stern et al. (1998; 2003). Auch andere therapeutische Ansätze unterstreichen, wie wichtig es ist, sich nicht von der Macht verführen zu lassen, die diagnostische Sicherheiten in der Psychotherapie bietet (siehe zum Beispiel Amundson / Stewart / Valentine 1993).

      Diese positive Sicht der post-modernen Unsicherheit wurde von der Gestalttherapie insofern geteilt, als man sich ganz auf das Hier und Jetzt des therapeutischen Kontaktes einließ. Sie passt nicht zum Erleben eines Notstands, das schnell zu einem traumatischen Erleben wird, wenn es an einem sicheren Beziehungshintergrund mangelt, wie ich ihn oben geschildert habe und wie er in Gestaltkreisen viel diskutiert worden ist (siehe zum Beispiel Cavaleri 2007; Francesetti 2008; Spagnuolo Lobb 2009c). Heutzutage ist die klinische Evidenz charakterisiert durch weit verbreitete Angst (Panikattacken, posttraumatische Belastungsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Hyperaktivität bei Kindern), Desorientierung in Beziehungen (Störungen der sexuellen Identität, widersprüchliche Beziehungsentscheidungen, Schwierigkeiten, Paarbeziehungen oder intime Bindungen aufrechtzuerhalten), körperlicher Desensibilisierung (Mangel an sexuellem Verlangen, Selbstverletzung mit dem Ziel sich selbst zu spüren, Anhedonie oder Gefühllosigkeit).

      Welche Wertigkeit kann die Gestalttherapie zum heutigen Panorama der Psychotherapien beitragen?

      Unser hermeneutischer Blick verrät uns, dass die Begründer der Gestalttherapie beim Schreiben des Standardwerks vor allem auf die Auflösung der wichtigsten neurotischen Dichotomien abzielten (Körper und Geist, Selbst und äußere Welt, emotional und real, infantil und reif; biologisch und kulturell; Lyrik und Prosa; spontan und absichtlich; persönlich und sozial; Liebe und Aggression; unbewusst und bewusst).

      Bei allen Weiterentwicklungen unserer Theorie müssen wir uns an diesem Ziel orientieren: Wie können wir PsychotherapeutInnen

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