Einsame Klasse. Felix Lill

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Einsame Klasse - Felix Lill

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Nachbarschaft herrschte abends ab zehn Friedhofsstille, auf der Straße kein Müll, keine Kriminalität, nicht mal hupende Autos und auch kaum Stau. Das alles in einer Metropolregion mit 37 Millionen Menschen. Eine Stadt, die täglich bebt vor Energie, ihren Puls aber so geschmeidig kontrolliert wie kein anderer Ort, der mir bekannt war. All die typischen Probleme von Ballungszentren lösten sich hier, bevor sie entstanden, durch moderne Technologie, eine rücksichtsvolle Bevölkerung und kluge Stadtplanung. Verschlafen oder berechenbar war Tokio trotzdem nicht. An dieser Stadt könnte ich mir ein Beispiel nehmen, dachte ich nicht nur einmal.

      Immerhin in Unberechenbarkeit machte ich mich immer besser. Nach den täglichen Uni-Aufgaben zu Asiens Finanzmärkten, Japans Handelspolitik, oder dem Einfluss von Deflation auf das Wirtschaftswachstum, wandte ich mich journalistischen Themen zu. Vieles vom Studium konnte ich gleich verwerten. Zum Beispiel eine Story darüber, wie wenig volkswirtschaftlichen Sinn es ergibt, dass Japan sich so vehement gegen Immigration stemmt, wo das Land angesichts der alternden Bevölkerung doch dringend junge Arbeitskräfte braucht. Oder wie geschickt Roboter allmählich ins Alltagsleben integriert werden, vom Gesundheitswesen bis zu Einkaufszentren. Bald verkaufte ich meine Arbeiten besser, auch die ersten Sätze auf Japanisch konnte ich einigermaßen verständlich aussprechen. Lena und ich verließen morgens zusammen das Haus, abends aßen wir gemeinsam, wenn es unsere Arbeitszeiten zuließen. Über Wochen begann kein Tag, ohne dass ich mich freute, wieder etwas Neues zu lernen, einem Job nachzugehen, den ich für sinnvoll hielt, und mit der richtigen Frau zu leben.

      Nur allmählich merkte ich, je tiefer ich mich in die Arbeit stürzte, umso weniger harmonierten Lena und ich.

      »Babe?«, rief Lena eines Tages aus der Dusche. Ihre Stimme hatte diesen hohen und weiter anhebenden Ton, bei dem ich zu wissen meinte, was folgen würde. Sie bat um einen Gefallen, aber eigentlich forderte sie ihn, in Frageform verpackt. »Heute Abend organisiere ich bei der Arbeit einen Basar. Ich würd mich echt freuen, wenn du vorbeikommen würdest. Auch nur kurz …«

      Babe hatte sie mich schon länger nicht mehr genannt. Dass ich aber gerade an diesen Tagen nicht früher als sonst Feierabend machen konnte, sondern erst deutlich später, wusste Lena. In Tokio hielten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank ihre Jahrestagung ab. Für Reporter sind solche Riesenkonferenzen nicht nur wichtig, weil dort viel Aktuelles von Weltrang besprochen wird. Im Herbst 2012 war die Lage brisant. Inmitten der europäischen Staatsschuldenkrise trafen die Finanzminister und Zentralbanker diverser Länder aufeinander, gleichzeitig flammte zwischen China und Japan gerade ein bedrohlicher Territorialkonflikt mit verkappten Kriegsdrohungen auf. Solche Tagungen bieten sich für Hintergrundgespräche mit allen möglichen Gruppierungen und Personen an. Deshalb sind für Journalisten Konferenztage lange Tage. Seit kurz vor sieben Uhr morgens saß ich am Laptop, am schmalen Schreibtisch im Schlafzimmer, um mich vorzubereiten. Und ausgerechnet jetzt, wo ich Lena für ihren Basar absagen musste, war ich wieder ihr Babe. War das ein Versuch der Wiederbelebung unserer zuletzt kränkelnden Harmonie, die wir beide reanimieren wollten? Aber warum genau in einem Moment wie diesem, wo ich doch keine Zeit hatte? Um nachher Schuldzuweisungen zu machen? Ich wunderte mich selbst über meine innerlich gereizte Reaktion. Für den Gedanken schämte ich mich, fühlte mich wie ein Zyniker. Wenn man in den Avancen des Anderen zuerst dessen mögliche Hintergedanken erkennt, bleibt keiner Beziehung mehr eine lange Zukunft. Jetzt war ich es wohl, der Sorgen heraufbeschwor. »Heute muss ich bis spät im Zentrum bleiben. Das weißt du doch, oder?«, sagte ich, um eine Stimmlage bemüht, die genauso freundlich klingen sollte wie ihre.

      Leider kam das bei Lena anders an. »Ich weiß nicht mal, ob du überhaupt kommen möchtest«, antwortete sie aus dem Bad schreitend, ohne Blickkontakt, schloss ihr großes Handtuch über der Brust und rauschte an mir vorbei zum Schrank mit der Schiebetür, der in die Wand gebaut war.

      »Natürlich würd ich gerne«, beteuerte ich.

      Lenas Organisation, die über die Vorteile erneuerbarer Energien aufklären wollte, bewegte sich auf hartem Boden in einem Land, dessen Regierung auch nach der Katastrophe von Fukushima an der Atomenergie festhalten wollte. Lenas Job war es, in Tokio Veranstaltungen zu koordinieren, durch die sich hoffentlich ein paar neue Spender fänden.

      »Nächstes Mal bin ich da, okay?«, schlug ich vor, und schaute dabei zu, wie sie nach dem Duschen ihre nassen Haare nach vorne über den Kopf fallen ließ, um sie zu föhnen. Erst der Lärm des laut pustenden Apparats mit Lockenaufsatz, dann der weiche Haarschaum, kurz nachföhnen, zum Schluss wuschelte sie sich ihre Mähne mit ihren Händen auf. Immer die gleiche Reihenfolge, in der sich die Frau, die ich liebte, den Schliff für den Tag verpasste, und mich ergriff dieses Ritual immer wieder.

      »Der größte und wichtigste Basar ist aber heute«, raunte Lena in dem Moment, als sie den Föhn ausknipste.

      Meine kurze Morgenträumerei ließ sie damit platzen.

      »Wir sehen uns halt kaum noch außerhalb dieser Wohnung«, fand Lena. »Irgendwann langweiligen wir uns, haben uns nichts mehr zu sagen und dann kommt die Trennung. Sowas hört man so oft.«

      Es stimmte, dass wir letztens nicht viel Zeit füreinander hatten, die Beziehung etwas an Fahrt verloren hatte. Wir beide nahmen das wahr. Dabei hatte sich doch gerade Lena immer das gewünscht: Eine geregelte Beziehung, in der man nicht mehr versucht, gemeinsam die Welt umzukrempeln, sondern einfach gemeinsam ist, zweisam. Wir lebten jetzt zusammen in dieser spartanischen Zwei-Raum-Wohnung, schliefen nachts in den Armen des Anderen ein, wachten morgens in unserer gemeinsamen Bettwäsche wieder auf. Ich war glücklich darüber, aber es gab die Momente, in denen sich selbst in mir Zweifel erhoben.

      Gemeinsam nahmen wir die U-Bahn, und als Lena in Shinjuku ausstieg, um in den Zug Richtung Tokioter Bucht im Süden zu wechseln, fühlte sich ihr Kuss, mit dem sie meinen erwiderte, zwar noch herzlich an, aber runtergeregelt, wie absichtlich kühl. Ich fand das unfair von ihr, aber ich beschwerte mich nicht. Nun wollte ich mich auf die Arbeit konzentrieren.

      Kurz vor der Station Otemachi, bei der ich aussteigen musste, surrte mein Handy.

      Nachricht von Lena: »Tut mir leid, dass ich eben zickig war. Die Situation macht mir einfach Angst.«

      Lena, dachte ich, beruhig dich doch. Aber das wollte ich nicht schreiben. Die Nachricht ließ ich erstmal unbeantwortet, bis ich einfühlsamere Worte parat hatte.

      In der riesigen Konferenzhalle im Finanzzentrum, die so modern und steril aussah, dass sie überall auf der Welt hätte stehen können, traf ich an einem der Kaffeespender auf meinen älteren Kollegen José Luis aus Spanien, den ich schon einige Male auf Pressekonferenzen getroffen hatte.

      »Stress?«, fragte er gleich, als er mich sah.

      »Nicht wirklich. Lena macht sich nur Sorgen um unsere Zukunft«, erklärte ich.

      José Luis kannte die Geschichte von Lena und mir, erinnerte ihn an seine letzte Beziehung. Er drückte mir einen Pappbecher voll dünnem Kaffee in die Hand und antwortete wenig sensibel: »Beziehungen sind nun mal vergänglich.«

      »Nicht alle«, konterte ich äußerlich cool.

      Er deutete auf die Menge vor dem Saal, in dem gleich die Pressekonferenz über die Prognosen zum Wachstum der Weltwirtschaft stattfinden würde. »Hier sind so viele Leute Single. Wahrscheinlich weiß Lena das und macht sich deshalb Gedanken.«

      Ich nickte und setzte ein möglichst unbeeindrucktes Lächeln auf, als ob ich selbst längst Bescheid wüsste. Sollte ich ja, als Reporter. Auf den folgenden Vortrag des Ökonomen vom Internationalen Währungsfonds über Inflation, Schulden und den Keynesianischen Multiplikatoreffekt konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich brauchte Ablenkung. Über den Browser in meinem Telefon suchte ich nach dem, was José Luis angedeutet hatte. Ich gab ein: »Singles

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