Einsame Klasse. Felix Lill
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Aber vielleicht kannten wir uns schon zu gut, oder zu lange, als dass wir unsere Missverständnisse in der Kommunikation noch einfach als solche benennen konnten. Ich vergriff mich in der Wortwahl, sie wurde laut. Die Harmonie, die wir beide suchten, war mit Gesprächen nicht wiederzubeleben. Diskutiert hatten wir schon alles. Den Fünfjahresplan, den ich weder aufstellen noch absegnen konnte, ihren zunehmenden Kontrolldrang, den ich immer weniger ertrug, einmal im Streit einen Polizeistaat nannte. Ich bereute das sofort, aber die Worte waren damit in der Welt, ab sofort gab es nur mehr Schaden zu begrenzen, den ich verursacht hatte. Ich vertraute Lena mehr als mir selbst, aber sie vertraute nach und nach uns beiden nicht mehr. Wie Jan und Anna, Lenas Freunde, die sich getrennt hatten, obwohl sie sich verstanden hatten, weil ihre Vorstellungen vom Leben und vom gemeinsamen Leben wohl doch zu unterschiedlich waren. Und es gab so viele andere. Überall schossen Freunde ihre Partner ab oder wurden in die Wüste geschickt, weil einer der beiden angeblich nicht ausreichend beziehungsfähig war. Alles andere, der gemeinsame Humor, die Interessen, der Sex, mochte gut funktioniert haben, aber irgendwas war immer.
Dennoch. Unsere Revolution musste weiterleben. Wir waren noch nicht fertig, und Lena war trotz allem mein moralisches Vorbild. Weniger rachsüchtig als ich, weniger eigensinnig, weniger stur. Sie verhandelte nicht auf dem Flohmarkt, fuhr nicht schwarz und log nie. Falls sie doch log, dann so gut, dass ich es für ausgeschlossen hielt, weshalb es mich dann auch nicht störte. Sie durchschaute Dinge viel schneller als ich, vor allem zwischenmenschliche Situationen. Ehe ich bemerkte, dass jemand im Gespräch die eigene Geschichte hochjazzte, um eindrucksvoller zu wirken, hielt Lena immer schon drei Beispiele dafür bereit. Zu Lena schaute ich auf, und ich wollte werden wie sie. Allein, wie sie mir damals verziehen hatte, als ich auf Weltreise gegangen war. Mit Anfang zwanzig war ich unterwegs auch auf andere Frauen getroffen, aber nach vielen Aussprachen und neuen Vertrauensbeweisen blieben wir zunächst ein Paar und fanden später wieder zueinander. Zwar holte sie das Thema immer wieder gegen mich hervor, wenn es ihr in den Kram passte. Aber mein Gott, dachte ich, das ist wohl ihr Recht. Wenn man so denkt, in den unangenehmsten Momenten, ist es dann Liebe? Die ganz große?
Tokios Herbst wurde kälter. Uns als Deutschen, die zittrige Winter gewohnt sind, hätte das die Stadt weniger fremd machen müssen. Aber die Fremden waren wir, und eher als gegenüber Tokio wurden wir es gegenüber einander. Vielleicht war Tokio auch Teil des Problems. Lena empfand die Stadt als unnahbar, über ihr Praktikum lernte sie doch deutlich weniger neue Menschen kennen als ich durch meine Arbeit und die Uni. Zeit mit meinen Bekannten zu verbringen gefiel ihr zwar, allerdings nagte es an ihrem Selbstwertgefühl, weil sie fand, dies seien ja eigentlich nicht ihre Bekanntschaften. Unsere Nachbarn waren allesamt freundlich, aber enge Freunde fanden wir auch in der Nachbarschaft nicht.
An einem Wochenende fuhren wir nach Kyoto. Von der altehrwürdigen Kaiserstadt wird behauptet, sie sei die Wiege der japanischen Kultur. Wir wollten die Tempel aus Gold und Silber besuchen, die Tradition der Geishas auf den Straßen sehen. »Jetzt fühle ich mich zum ersten Mal so, als wäre ich in Japan angekommen«, sagte Lena, sobald wir aus dem Bahnhof an die frische Luft traten. Die aufdringliche, bunte Seite von Tokio war hier nicht zu finden. Matte Farben, gerade angelegte Wege, kleine Einzelhäuser statt hoher Gebäude, in allen Richtungen Parks mit Schreinen oder Tempeln. Passanten schritten zu gemächlich voran, als dass einem bei ihrem Anblick die Bezeichnung Fußgänger einfiel. Hier erschienen die Leute noch viel mehr in Einklang mit ihrer Umwelt als in Tokio, wo das Verrückte im Menschen immer wieder nach außen drängte. Hier nicht, hier herrschte zurückhaltende Vernunft.
Lena lächelte wieder.
Ich auch. Händchenhaltend spazierten wir durch die Stadt, als Touristen konnten wir es gut aushalten gemeinsam. »Glaubst du, Anna und Jan wären gerne mal nach Kyoto gereist?«
Lena schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht reist einer von denen jetzt alleine rum.«
Wer seine Erfahrungen nicht erst teilen muss, weil er sie gemeinsam mit jemandem erlebt, sich später auch gemeinsam erinnern kann, erfährt alles doch mit einer ganz anderen Qualität, dachte ich. Anna und Jan taten uns leid. Selbst mir, der sich manchmal insgeheim wünschte, ohne Rechtfertigung oder Beobachtung auszugehen, zu reisen, Leute zu treffen, aufzustehen, sich schlafen zu legen. Weil doch Freiheit schon an sich ein kostbarer Wert ist, selbst dann, wenn er zu nichts Konkretem nützlich sein mag, nur als Möglichkeit. Jan und Anna waren nun beide frei. Andere von Lenas und meinen Bekannten gesellten sich unbekannterweise zu den beiden, indem auch diese sich von ihren Partnern trennten. Patrick und Kathy aus London, Mark und Steffi aus Wien, Tobi und Erhan aus Hamburg. Als Zweierteam würden wir sie wohl nie mehr treffen, sie sich auch nicht, jeder würde nun für sich alleine durchs Leben ziehen. Vielleicht würde einer dieser Neusingles so friedliche Städte wie Kyoto finden, wo über den Tempeln sogar die Vögel zu zwitschern aufhörten, oder durch verdreckte Gassen in London taumeln, wo die Backsteinwände nach pinkelnden Männern rochen und aus den Pubs Torjubel grölte. Vieles nimmt man alleine intensiver wahr. Aber wenn man es nicht richtig teilen kann, weil niemand dabei war, was ist das dann wert? Doch unseretwegen mussten wir uns endlich nicht weiter damit beschäftigen. Die Tage in Kyoto waren wie früher, als wir frisch zusammen waren und unsere Beziehung noch nicht mit immer neuen Liebeserklärungen rechtfertigen mussten. Die Stimmung trug uns und nicht umgekehrt.
Aber diese Tage vergingen schnell. Zurück in Tokio umarmte uns wieder die Schwermut. An einem Abend in einer Sushibar kam die Frage ein weiteres Mal auf. Lena stand kurz davor, nach Köln in die Heimat zu fliegen. »Felix, wie machen wir weiter?« Sie wollte mehr wissen. Über den nächsten Schritt, den sie in ihren Vorstellungen wahrscheinlich genau kannte und den ich nicht im Sinn hatte. »Wo willst du in einem Jahr sein?«
Ich blieb stumm, weil ich keine Antwort hatte, die ihr gefallen würde, und »keine Ahnung« lieber nicht sagen wollte.
»Kannst du mir nicht sagen, wo du in einem Jahr mit mir sein willst?«
Darauf konnte ich antworten, und ich fand meine Antwort viel bedingungsloser als alles Konkrete, was in einem Fünfjahresplan stehen könnte: »Ich will mit dir sein, Lena. Wo, das weiß ich nicht. Wie, weiß ich auch nicht. Ist das wichtig? Das Wichtigste ist für mich, dass es uns beide gibt, so wie in den letzten Jahren. Wir haben nie gewusst, wie es weitergehen wird. Irgendwie könnten wir überall auf der Welt sein. Wir sind nicht reich, aber leben ohne finanzielle Sorgen. Wir haben keinen konkreten Plan, aber viel Spaß und machen unbezahlbare Erfahrungen. Wir sind beweglich. Was ist daran schlecht? Andere beneiden uns darum.«
Lena nickte, sie war aber nicht einverstanden. Dem Stück Makrelensushi, das auf dem Zugsystem über den Tischen an ihren Augen vorbeifuhr, schmiss sie einen abschätzigen Blick zu. Ich liebte Japans Küche mit all ihren Variationen und Zubereitungsformen. Sie hasste Fisch, genau wie Fleisch. »Ich finde nur, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Das wilde Leben will ich nicht für immer. Irgendwann muss man sesshaft werden.«
Der Satz klingelte in meinen Ohren. Mindestens bei der Hälfte aller Paare, die sich auseinandergelebt hatten, hatte ich in den Gesprächen darüber so einen Begriff wie Sesshaftwerden gehört. Bestimmt wollten das in einigen Fällen beide nicht, mindestens einer aber hatte dann das Gefühl, es wollen zu sollen. Geordnete Bahnen sind wichtig, heißt es so oft, und es gilt wohl auch hier. Sonst würde Liebe zu Anarchie. Dabei ist das Wichtigste