Einsame Klasse. Felix Lill
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Ein gutes halbes Jahr war ich nun hier, kannte Tokio noch nicht sonderlich gut, und Whisky hatte mich nie interessiert. Aber ich war aufgeschlossen. Als sich für Lena die erste Chance ergab, diese Stadt wieder zu verlassen, hatte sie die Flucht ergriffen. Jetzt wollte ich mich der Sogkraft Tokios erst recht ergeben, widerstandslos. Noch viele Drinks, Interviews und Artikel sollte ich brauchen, um zu erahnen, warum eigentlich. Bis mich dünkte, dass das Leben besonders vieler Menschen in Tokio ein Vorbild sein könnte für das, was auch in Europa und in vielen Ballungsräumen in anderen Teilen der Welt immer mehr Menschen umtreibt. Bis ich mich von Fragen überhäuft sah und mich auf die Suche nach Antworten machen musste.
Der Whiskygeschmack im Mund verließ mich, der raumlose Rückzugsort, der sich mit ihm aufgetan hatte, verschwand. Ich blickte vorsichtig um mich. Hinter den Rücken von uns Einzelgängern am Tresen lag eine Frau halb im Sofa an einem Tisch, der eigentlich für Vierergruppen gedacht war, und tippte auf ihrem Handy. Daneben ein Einzeltisch, daran eine junge Frau, die abwechselnd in ihrer Tasche kramte und in einem Buch las, dessen Titel ihr Geheimnis blieb, da sie das Cover in Papier eingewickelt hatte. Neben mir am Tresen starrte rechts der reglose Hibiki-Trinker an die Wand, links nahm ein alter Herr Platz und besetzte den Stuhl neben sich mit seinem Hut. Keiner sprach. Hier war jeder allein. Und darin irgendwie in guter Gesellschaft.
An einem anderen Tag spazierte ich durch eine der von Reklamen an Häuserwänden bewachten Straßen, die Lena und ich an Samstagen runtergeschlendert waren. Mir fielen Dinge auf, die bis dahin an mir vorbeigezogen sein mussten. Sicher waren sie nicht erst jetzt da, wo ich wieder Single war. Hinter den Fensterwänden von Cafés aßen überraschend viele junge Leute ihren Kuchen ohne Begleitung. Als ich zur Mittagszeit in ein Schnellrestaurant ging und mir bei einer Roboterstimme am Automaten Ramen-Nudeln bestellt hatte, nahm ich an einem der vielen Tische Platz, die für Einzelbesucher angerichtet waren. Beim Joggen in der Abenddämmerung entlang des breiten Tamagawa-Flusses lieferten sich Tennisspieler Duelle mit der Wand, ein Stück weiter hielten in Fußballmontur gekleidete Hobbysportler den Ball mit dem Fuß in der Luft, ohne Mit- oder Gegenspieler. Wieder begegnete mir Lenas Satz aus der Flughafenhalle von Dubai: »Hoffentlich finden sie auch als Singles irgendwie Liebe.« Damit hatte sie ihre engsten Freunde gemeint, aber hier ging es nicht nur um zwei einander Verflossene. In Gedanken an Lenas Frage, all die zuletzt in die Brüche gegangenen Beziehungen und im Angesicht dieser Einzelgänger in Tokio fragte auch ich mich: Wie würden sie sich ohne Liebe, diese Grundenergie für fast alles, durchs Leben kämpfen?
Lena fühlte sich von mir alleingelassen, weil ich mich in Arbeit und Studium stürzte und die Sprache lernen wollte, sodass für uns zwei tatsächlich nicht viel Zeit blieb. Das war zum Teil meine Schuld gewesen. Die Einzelgänger, die ich erst jetzt sah, waren für sie ein tägliches Spiegelbild gewesen, wurden nun zu meinem. Ihr hatte der Anblick nicht gefallen. Umso wichtiger war es wohl, dass wir unsere Beziehung zur üblichen Erzählung der unzerstörbaren Liebe machten. Liebe, das hieß für mich seit meiner Pubertät Zweierbeziehung, alles teilen, ob Geld oder Geheimnisse, gemeinsam Pläne machen, für meine Partnerin Liebhaber sein und gleichzeitig der beste Freund. Gerecht wurde ich diesem Anspruch leider nie, nicht in meiner Abizeit und auch nicht zu Anfang des Studiums. Meistens verließen meine Freundinnen mich, umgekehrt war es selten. Ihre Urteile schwankten zwischen unzuverlässig, wenn ich zu häufig Verabredungen absagte, und unberechenbar, wenn ich Gesprächen über die Zukunft auswich. Aus ihrer Sicht hatten sie natürlich alle recht mit ihrer Kritik. Entweder mich interessierten Sport, Bücher und andere Dinge, für die man keinen Partner braucht, ein bisschen zu sehr, oder schon der Gedanke, mich für immer dieser einen Person hinzugeben, verpasste meinem Magen ein unerträgliches Schwächegefühl, das nur durch das Ausbrechen aus dieser Enge heilbar schien. Aber um selber Schluss zu machen, dafür fehlte mir mal Mut, mal Tatendrang.
Aus irgendeinem Grund hatte Lena mich toleriert und ich war auch viel weniger unzuverlässig und unberechenbar gewesen als sonst, nur genügte das am Ende nicht mehr, denn wir wollten ja immer weiter. Die Liebe toleriert keinen Stillstand, sie will immer voller Erwartungen in eine rosige Zukunft deuten. »Ich rede ja nicht von Heiraten und Kinderkriegen, aber …«, so hatten viele Sätze begonnen, häufiger waren es ihre Sätze gewesen aber auch ich hatte so gesprochen. Für Lena bedeutete der Umzug hierher weniger ihr bedingungsloses Bekenntnis zu uns als vielmehr eine letzte Prüfung meiner Beziehungswürdigkeit. Durchgefallen. Nein, nein, kein Egoist, hatte sie mir versichert. Aber vielleicht »für eine normale Beziehung« doch nicht geschaffen? Das waren keine wohltuenden Worte gewesen. Keine meiner Beziehungen war so normal gewesen wie die mit Lena. Und vielleicht hätte ich einfach sagen sollen: Lass uns heiraten. Das wäre die Art von konkreter Bindung gewesen, die sie sich gewünscht hatte, vielleicht nicht die Ehe selbst, aber irgendein institutionalisiertes Versprechen, an dem man sich besser hätte orientieren können. Tragisch erschien mir dieser Konflikt mit ein bisschen Abstand, da es irgendwie keiner gewesen war, wir beide wollten doch miteinander sein. Ich hatte nicht das Richtige gesagt, weil ich ehrlich sein wollte. Eine Notlüge hätte alles gerettet. Aber es wäre mehr als eine Notlüge gewesen. Ich wollte die institutionalisierte Bindung, was auch immer für ein Fünfjahresplan das wäre, nicht, oder noch nicht. Zunächst wollte ich die Freiheit weiterleben, wobei Lena in dieser Vision von Freiheit immer einen festen Platz hatte. Nach der Trennung wollte ich sie oft anrufen, ihr alles nochmal erklären, aber wir hatten abgemacht, dass wir das nicht tun würden.
Und nun, da ich mich in meinem neuen, fremden Umfeld so umsah, fand ich so etwas wie zaghaften Trost. Denn mir kam vor, dass es Viele gab von meiner Sorte.
Einerseits hätte ich mich nicht wundern dürfen. Weltweit berichteten Zeitungen, Magazine und TV-Dokus seit Jahren davon, fast immer im selben Ton: Tokio, die Stadt der Singles. In der größten Stadt der Welt, mit einer Bevölkerung so groß wie der von ganz Kanada, seien Menschen zunehmend »einsam in der Masse.« (Wall Street Journal) Denn »die Japaner« seien draufgekommen, »Beziehungen seien ihnen zu umständlich.« (Süddeutsche Zeitung) Das ganze Land erlebe gerade »eine neue Eiszeit.« (Die Zeit) Im Herbst 2011 lieferte das Nationale Institut für Bevölkerungsforschung wieder Zahlenmaterial für solche Diagnosen. 61 Prozent der unverheirateten Männer und 49 Prozent der unverheirateten Frauen zwischen 18 und 34 Jahren sind in keiner Liebesbeziehung. Fast die Hälfte von ihnen will auch gar keine. Fast 40 Prozent aller Ledigen sind in diesem Alter Jungfrau, mit steigender Tendenz. Auch der Anteil der Unverheirateten nimmt zu, das zeigten Umfragen des Kondomherstellers Sagami vom Januar 2013. Ein Drittel der Männer in ihren Dreißigern und ein Viertel der Frauen sind unverheiratet. Unter 30 Jahren sind es sogar fast 80 Prozent der Männer und über 50 Prozent der Frauen.
Das Bild der Eiszeit begegnete mir noch anderswo. Charlotte, eine frischgebackene Collegeabgängerin, die ihren ebenfalls jungen Ehemann, einen Fotografen, für eine Woche nach Tokio begleitet, erlebt die Stadt in voller Kälte. In Sofia Coppolas Film »Lost in Translation«, den ich an einem Wochenende morgens im Bett ansah, spielt Scarlett Johansson Charlotte, eine Person, die verloren ist. Verloren vor Fragen über die Beziehung zu ihrem Freund, in dessen geschäftigem Leben sie sich wie bloße Dekoration fühlt. »Everyone wants to be found«, jeder will gefunden werden, prangt unterm Titel der englischen Originalversion dieses Films, der für sein Drehbuch einen Oscar gewann und als Meisterwerk gilt. Der Kulturschock, den Charlotte in dieser dicht bevölkerten Stadt erleidet, drückt sich deshalb nicht wie für viele andere Reisende in den grellen Lichtern im Techviertel Akihabara aus, oder in den leuchtend gekleideten Mädchen mit rosa Zöpfen in Harajuku, sondern im scheinbar absurden Kontrast, den Charlotte zwischen dieser visuellen Aufdringlichkeit und einer sozialen Distanz erlebt. In Tokio findet Charlotte sich selbst nicht, und während dieser einen Woche in der Stadt merkt sie, dass ihr Partner sie auch nicht findet. Charlotte ist unverstanden, aber mitten drin, erlebt das Getümmel und die klaustrophob vollen U-Bahnen. Zwischen ihr und den Anderen, ihrem Mann und den Tokiotern, deren Gestik und Worte sie einfach nicht versteht, scheint eine unüberwindbare