Einsame Klasse. Felix Lill
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Lost in Translation war deshalb ein so beeindruckender Film, weil er ein Gefühl anspricht, das jeder kennt, fast jedem Angst bereitet und für dessen Vermeidung jeder seine eigene Strategie hat. Jeder kennt Einsamkeit. Manche stürzen sich nach einer verflossenen Liebschaft möglichst bald in die nächste, andere tun alles dafür, damit die Brüche einer Beziehung bloß nicht erst zu bedrohlich werden, wieder andere üben sich in Enthaltsamkeit, damit beim nächsten Mal alles noch besonderer und wirklicher wird. In Japan, wo die fremde Charlotte aus Lost in Translation mit ihren Sorgen allein ist, schien bei genauerem Hinsehen ein vierter Typ des Alleinseins besonders häufig zu sein. Menschen, die sich mit der Welt abfinden, so wie sie ist. Die der Liebe nicht hinterherrennen, die auf Entzug leben, oder vielleicht gar nichts mehr davon brauchen. Wahrscheinlich lebten so die Gäste in der Bar Nocturne, die allein kamen, dort allein ihre Zeit verbrachten und allein davongingen. Aber das schien mir unglaublich. Leben wir am Ende nicht alle für die Liebe? Gab es diese Typen wirklich? Die Traurigkeit der westlichen Protagonistin aus Lost in Translation konnte ich im Film gut nachvollziehen. Sie hatte niemanden zum Reden, zum Kuscheln, zum Sich-Ausheulen. Aber im nicht-fiktiven Tokio kam mir die Einsamkeit, wie ich sie in der Bar Nocturne erlebt und beim Joggen beobachtet hatte, auch wie ein Für-sich-Sein vor, eine harmonische Art des Alleinseins.
Als Kind habe ich gelernt, dass Alleinsein nichts Gutes sein kann. Ein Zeichen von Scheitern. Mir hat das niemand ausdrücklich erklärt. Das war aber auch nicht nötig. Kinderbücher machten das deutlich, TV-Berichte und Filme zeigten es immer wieder. Wer allein eine Kneipe besucht, ist ein Trunkenbold, wer im Alter keine Kinder hat, konnte wohl niemanden von sich überzeugen, und wer Single ist, kann entweder nicht mit Menschen umgehen oder ist zu feige für echte Intimität. Wo immer ich in den vergangenen Jahren dauerhaft lebte, ob in Wien, London oder Berlin, war diese Botschaft zwischen den Zeilen zu lesen und in der Luft zu hören. Wer dieses Maß an Japan anlegt, kann in dieser Zeit nicht bloß gescheiterte kleine Revolutionen beobachten, wie es zwischen Lena und mir geschah, als unsere Träume von Ewigkeit verpufften. Hier lässt sich mehr als das beobachten. Japan erlebt eine gesamtgesellschaftliche Revolution des Scheiterns.
Ich gehörte also dazu. Zu diesen einsamen Hunden, wie sie hier manchmal genannt werden, die durch die Stadt streunen und vielleicht gar nicht wissen, wonach sie suchen. Ich wusste es tatsächlich nicht, soviel war mir klar. Immerhin redete ich mir ein, dass ich ja eigentlich schon lange ein kompromissloses Leben hatte führen wollen, auch wenn ich Lena jeden Tag vermisste. Vielleicht ähnelte ich jenen Leuten in diesem Land, für die Beziehungen anscheinend zu umständlich waren. Wir hatten uns nicht auseinandergelebt, im Gegenteil, aber unsere Vorstellungen vom Leben waren so lange immer wieder aneinandergeprallt, bis wir durch große Dellen entstellt waren. Das typische Problem, das ich aus meinen verschiedenen Freundeskreisen schon kannte, und von dem ich auch schon in soziologischen Studien gelesen hatte. Im Wesentlichen ist es ein Koordinationsproblem, das sich schneller oder langsamer in fast allen sozialen Milieus ausbreiten dürfte, ob bodenständig oder kosmopolitisch, wohlhabend oder klamm. Weil es schnell entsteht in einer Zeit, in der Selbstverwirklichung als eines der obersten persönlichen Güter angesehen wird, egal welchem Geschlecht man angehört. Unsere Zeit ist nicht mehr geprägt von klar definierten Rollenbildern, Frau und Mann können und sollen finanziell unabhängig sein. Das ist eine Errungenschaft der Emanzipation, aber sie rüttelt das traditionelle Liebesleben durcheinander.
Vor gut 25 Jahren, als diese Entwicklung noch eine kleine Minderheit betraf, formulierte das Soziologenpaar Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim schon ein wissenschaftliches Konzept darüber. In ihrem Buch »Das ganz normale Chaos der Liebe« skizzierten sie eine neue Ära, in der alles Intime und Zwischenmenschliche zu einer Sache eigener Entscheidungen geworden sei. Weil die Bedeutung und die Glaubwürdigkeit alter, einst für unstrittig gehaltener Normen schwinde, werde in der Liebe alles ein Ding der Absprache, sogar Verhandlungssache. Wo leben wir, wie leben wir, was tun wir gemeinsam, wer ist für was zuständig, wo ziehen wir die Grenzen der Privatsphäre, was nehmen wir uns vor und wie erreichen wir das? So kompliziert wie heutzutage sei die Liebe noch nie gewesen. Denn sie kollidiere mit den Sphären der Familie und der persönlichen Freiheit, beides Bereiche, in denen wir alle gern unsere eigenen, individuellen Vorstellungen pflegen und verteidigen. Als verantwortlich für diesen Wandel, der Scheidungsraten in die Höhe schießen und neue Lebensmodelle häufiger werden lässt, die nicht dem Nuklearhaushalt mit Eltern und Kindern entsprechen, erklärten Beck und Beck-Gernsheim den Arbeitsmarkt. Sobald Frauen ihren eigenen Job haben, müssen sie ihrem Partner nicht mehr überall hin folgen. Und häufig tun sie es auch nicht. Der Zeitgeist zwinge junge Menschen nämlich förmlich dazu, »ihr eigenes Ding« zu machen, und auch wenn das Leben überhaupt nicht nach Plan laufe, überblendeten sie die Realität mit ihren Idealvorstellungen, die in einer nahen oder fernen Zukunft ja noch Wirklichkeit werden könnten. Im Jahr 1990 beschrieben Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim eine Generation junger Menschen, die ein Maß an Individualisierung erreicht hatte wie keine vor ihr. Diese Menschen fänden sich an einem einsamen Ort wieder, wo sie selbst die Verantwortung übernehmen, ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen, obwohl sie in ihrer Kindheit kaum darauf vorbereitet worden waren. Und was sei das Ergebnis dieses unumkehrbaren Verschwimmens von Normen, Normalitäten und Individualitäten, in der die Familie keine klar definierte Einheit mehr ist? Für die beiden Soziologen war die Antwort offensichtlich: »Die Familie natürlich!« Es werde bloß mehr Spielarten von ihr geben, weil nun jeder etwas zu sagen habe. Patchworkfamilien, Wochenendfamilien, und alle möglichen anderen Konstellationen. Zwischen den autonomer gewordenen Familienmitgliedern werde dabei Liebe sogar wichtiger als je zuvor, weil sie wie Klebstoff zusammenhalte.
Ein Vierteljahrhundert später offenbart sich, dass die Experten eine Möglichkeit nicht beachtet haben. Verglichen mit den jungen Erwachsenen der 1990er Jahre sind die 18- bis 34-Jährigen von heute um Längen weiter individualisiert. Sie werden von Suchmaschinen im Internet ihrem Verhalten entsprechend bedient, können ihre Meinung kostenlos über soziale Medien kundtun und über das Handy den nächsten Liebhaber finden, leiden weniger als ältere Generationen unter Vorurteilen gegenüber alternativen Lebensstilen und bekommen in der Schule weisgemacht, alles sei möglich, wenn sie sich nur genügend ihren Talenten und Interessen entsprechend anstrengen. Der deutsche Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz nennt die heutige Zeit überdies eine »Gesellschaft der Singularitäten«, in der das Besondere über das Allgemeine gestellt wird, die vermeintliche Einzigartigkeit eines Lebenslaufs nicht nur möglich erscheint, sondern auch erwartet wird. So werde das Leben kuratiert, also möglichst nach individuellem Stil ausgestaltet und zur Schau gestellt. Solche Entwicklungen machen die Welt der Liebe nicht nur zum großen Versprechen auf Bestätigung und Erlösung im Aufgehen der eigenen Eigenheiten in der Zuneigung eines Anderen. Die Liebe wird auch zur großen Last. Denn hat man sie einmal, heißt das heute lange nicht mehr, dass sie auch bleiben wird. Das zeigt sich im Boom von Datingportalen, von denen es allein im deutschsprachigen Raum mittlerweile mehr als 2.500 Anbieter geben soll. Hier sucht, wer schon lange niemanden mehr hatte, mal wieder eine Abwechslung gebrauchen kann, oder gerade jemanden verloren hat. Die Liebe von heute ist ein flüchtiges Ding.
Das war es, was ich mit Lena erlebt hatte und viele meiner Freundinnen und Freunde mit ihren Partnern. Die Bedingungen mussten wir von Anfang an und ständig neu besprechen. Als ich auf Weltreise war, fragten wir uns: Wann bin ich zurück? Wo wird sie dann sein? Treffen wir uns in Mexiko oder Indien? Woher kommt das Geld dafür? Und wenn beides nicht klappt, hat das dann überhaupt noch einen Sinn? In London, als wir nach einer Auszeit wieder zusammengefunden hatten, stand sofort im Raum: Was kommt als Nächstes? So wankte unsere Liebe immer auf der Kippe, und wir mussten umso romantischere Freunde und verständnisvollere Partner sein, damit die Idee von uns zu zweit nicht stürzte. Bis sie irgendwann trotzdem fiel.
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