Einsame Klasse. Felix Lill
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Die Metropolenbewohner in den reichen Ländern dieser Welt haben sich zumindest daran gewöhnt, für sich zu leben. Single-Haushalte, ein typischer Indikator für die Durchdringung einer Gesellschaft durch den Individualismus, verbreiten sich besonders dort, wo mehr Menschen nah aneinander leben. Mittlerweile ist der Single-Haushalt die häufigste Lebensform in der gesamten Europäischen Union. Dieser Lebensstil wiederum kommt häufiger unter Menschen vor, die überhaupt keinen Partner haben. Laut einer Umfrage der Partnervermittlungsagentur Parship von 2009 lebten damals knapp 30 Prozent der Einwohner von Berlin und München als Singles, in Hamburg, Köln und Frankfurt lag der Anteil bei rund einem Viertel, im deutschen Durchschnitt aber nur bei einem knappen Fünftel. In Österreich haben nach einer Parship-Umfrage von 2015 Wien und Salzburg den höchsten Single-Anteil mit je 36 Prozent. In den ländlicher geprägten Bundesländern Niederösterreich, Oberösterreich und Kärnten kommen die Alleinstehenden nur auf ein Viertel. Für Soziologen ist der Begriff Großstadtsingle ein eigenes Konzept, weil der Typus mittlerweile so häufig vorkommt.
In Tokio beobachtete ich die Extremform davon. Eine abgeklärte Absage an die Idee der Liebe als Heilsbringer? Vielleicht war es auch dies, was die irgendwie unglücklich verliebte Charlotte aus Lost in Translation einfach nicht verstehen konnte, weshalb Tokio sie so frieren ließ. Natürlich begegnete man auch hier, im realen Tokio, reichlich romantischem Verhalten. Zum Kirschblütenfest im Frühling können sich viele Japaner nichts Tolleres vorstellen, als auf einer unter einem blühenden Kirschblütenbaum ausgebreiteten Decke beim Picknick zu sitzen, sich mit dem Liebhaber mit Sake zu betrinken und sich gegenseitig Früchte und Kekse in den Mund zu schieben, weil sie es so schon mal in Filmen gesehen haben. Jedes Jahr Mitte Februar haben Frauen quasi die Pflicht, ihrem Freund (oder ihren Freundinnen) Schokolade oder Selbstgebackenes zum Valentinstag zu schenken. Im Interesse der Geschlechtergleichheit (oder im Interesse der Schokoladeproduzenten) sind zum White Day, genau einen Monat später, die Männer mit dem Schenken dran. Und zu Weihnachten, das in Japan nie religiöse Bedeutung hatte, suchen viele Singles händeringend nach einem Partner, auch wenn es nur saisonweise ist, um diese romantischsten Tage des Jahres nicht allein verbringen zu müssen. Einen großen Anteil am japanischen Weihnachtswahn dürfte Hollywood haben. Trotzdem scheinen die Indikatoren des Alleinseins für sich zu sprechen. Der Anteil derer, die mit all dem nichts mehr zu tun haben, nimmt zu.
An einem anderen Abend ging ich wieder unter die Erde, in die Bar Nocturne. Draußen brach der Winter über Tokio herein. Schon seit einigen Tagen gingen die Menschen nur noch in dicken Jacken vor die Tür. In der Bar Nocturne erwartete ich frohes Treiben, erleichterte Gäste, die sich unter dem gelben Licht, das in dünnen, einzelnen Strahlenbündeln auf den Tresen und die Tische schien, die Hände bei starkem Alkohol wärmen würden. Aber drinnen zeigte sich im Wesentlichen das gleiche Bild wie einige Wochen zuvor. Der stumme Hibiki-Trinker saß wieder rechts am Tresen, hinten ein paar Einzelgäste. Zwei Männer auf dem tiefen Sofa unterhielten sich mit gedämpfter Stimme über ihre Jobs. Auch die Kälte draußen schien das Bedürfnis der Gäste nach Gesellschaft, wie ich es aus Europa kannte, nicht zu steigern.
Herr Tanaka schenkte mir seine Empfehlung für diesen Abend ein. Ich ließ mich auf den Whiskyluxus ein, er schien seinen Preis wert. Talisker Storm, ein Single Malt, einer der Rauchigsten des schottischen Nordens, gleichzeitig würzig, wie Tanaka mit leiser Stimme erklärte, als er das Glas mit dem dünnen Hals über die Theke schob. Der Stumme rechts von mir erkannte mich vom letzten Mal, würdigte mich eines scheuen Lächelns, justierte sich dann wieder auf seine Blickbahn zwischen Counter und Flaschenwand. Auf dem Tresen vor ihm lag kein Handy, kein Päckchen Zigaretten, nur ein schwarzer quadratischer Untersetzer und sein 17-jähriger Hibiki, straight, ohne Eis. Der Mann reduzierte sich wohl aufs Wesentliche. Schwieg, bewegte seinen Kopf gelegentlich minimal, aber ohne von außen sichtbaren Grund. Wie letztes Mal trug er einen dunklen Anzug, den oberen Hemdknopf offen, den Rücken über das glanzpolierte Holz der Theke gekrümmt. Trotz des förmlichen Auftritts passte er gut zum Prototypen des Losers, den ich seit meiner Kindheit aus Fernsehserien kannte. Lächelte wenig, sprach gar nicht, hatte immer ein Glas Hochprozentiges zur Hand. Ob er süchtig war, war schwer zu sagen. Er kippte sich die Gläser nicht in den Rachen, und wenn ihm die jazzige Kombination aus Piano und Schlagzeug aus den Lautsprechern gefiel, trank er einige Minuten gar nicht, hob das Glas unentschlossen an und stellte es ohne anzusetzen wieder ab. Aber er war alleine. So sehr, dass niemand, nicht einmal Herr Tanaka, der ihn sicher regelmäßig bewirtete, ihn auf irgendeine Weise hätte ansprechen können, ohne dass es aufdringlich gewirkt hätte. Der Unterschied zum verkorksten Verlierer der Gesellschaft aus meiner Vorstellung war, dass der hier keinen Ärger machte, und dass es mir, je länger ich ihn sah, umso wahrscheinlicher vorkam, dass ich ihm seine Traurigkeit nur andichtete. Irgendwann stand er auf und ging zur Toilette.
»Herr Tanaka, verzeihen Sie mir die Frage: Ist dieser Mann immer allein?«, fragte ich leise und etwas zu hastig.
»Er kommt immer ohne Begleitung. Er wohnt in der Nähe, bleibt nach der Arbeit meistens für zwei Stunden ungefähr.«
»Glauben Sie, es geht ihm gut oder schlecht?«
Tanaka schwieg, schien die Frage nicht zu verstehen.
»Ich meine, ist er traurig oder fröhlich?«
Keine Reaktion.
Ehe unser Gesprächsthema wieder an seinen Platz zurücktrotten würde, versuchte ich, mich durch eine Filmszene zu erklären. »Sie kennen Lost in Translation?«
Tanaka nickte.
»Eines Abends sitzt Charlotte alleine an der Hotelbar. Sie schweigt und schaut vorsichtig zu den besetzten Tischen hinter sich. Wahrscheinlich ist sie neidisch auf all die anderen Menschen in Gesellschaft. Denn sie sitzt nur deshalb alleine an der Bar, weil sie niemanden kennt und auch nichts Besseres zu tun hat. Und es mag schon sein, dass sie sich angesichts all dieser Umstände auf ihrem Stuhl mit dem Getränk in der Hand wohlfühlt. Aber eigentlich ist sie einsam. Sie wünscht sich etwas Anderes.«
Tanaka hörte zu und musste schmunzeln. »Lost in Translation war vielleicht kein sehr guter Film«, sagte er. Der Reglose nahm wieder Platz, Tanaka sprach leiser weiter. »Die japanischen Figuren kommen darin ein bisschen wie Außerirdische rüber, denke ich. Und vielleicht müsste Charlotte auch gar nicht so verloren sein, wenn sie sich nicht so auf das konzentrieren würde, was ihr gerade fehlt.« Herr Tanaka nickte, als wollte er damit sagen, dass genug gesagt war.
»Die Story wird ja aus der Perspektive von dieser Charlotte erzählt«, entgegnete ich. »Ist es daher nicht okay, dass ihr Umfeld ihr fremd erscheint? Mir kam der Film nicht rassistisch vor. Die eigentlich Blöden sind doch die beiden Ausländer, die junge Charlotte und der ältere Bob, die einfach nichts verstehen.« Wir schwiegen einen Moment, stießen beide ein zustimmendes Stöhnen aus. »Vielleicht haben Sie ja Recht«, sagte ich zu Tanaka. »Und Charlotte macht sich zu Unrecht Sorgen.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist das so«, erwiderte er.
War das vielleicht so? Sollte ich, anstatt Lena hinterher zu trauern, nach vorne blicken, die Revolution für gescheitert erklären, oder einfach für abgeschlossen? Das hieße auch, dass das anscheinende Schwinden der Liebe in Japan, über das ausländische Medien oft wie über eine Apokalypse berichten, aus Sicht der Betroffenen keinen Weltuntergang bedeutet. Eine Katastrophe wäre das dann nur noch in den Augen der Betrachter, die eine »Eiszeit« beschreiben,