Wer regiert die Schweiz?. Matthias Daum
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Die Wirtschaft: Seit der Bundesstaat im 19. Jahrhundert gegründet worden war, konnte sie fast immer ihre Sicht der Politik durchsetzen. Die Wirtschaft, das waren die Chefs und Besitzer von kleineren, mittleren und hauptsächlich grösseren Unternehmen. «Die Wirtschaft» hiess aber vor allem: die Schwergewichte aus Pharma-, Chemie-, Maschinen-, Nahrungsmittel- und Finanzindustrie, die sich gemeinsam mit Bauernvertretern, Militär und der 150 Jahre lang führenden Partei, der FDP, zu einer Achse der Macht verschmolzen hatten.
Diese Achse war in der Schweiz bekannt und anerkannt. Teils bewundernd, teils achselzuckend, teils schaudernd erzählte man Anekdoten wie die, dass der Chef des Wirtschaftsdachverbandes Vorort sein Büro im Bundeshaus West hatte. Oder dass Industriemanager die Rüstungsbeschaffungs-Kommissionen des Verteidigungsdepartements leiteten. Oder dass die Schweizer Delegation bei Handelsvertrags-Verhandlungen im Ausland von Exportindustriellen angeführt wurde – und nicht etwa von Beamten. Alles notabene Aspekte des Milizsystems helvetischer Art.
Gelenkt wurde in Hinterzimmern und in Nebensätzen
Die Vernetzung, gern Filz genannt, war mehrdimensional. Auf die Nationalratsstühle setzten sich in den 1970er-, 80er- und 90er-Jahren – erstens – traditionell auch Fabrikanten mit Namen wie Bühler, Ammann, Schmidheiny oder Villiger. Zweitens entsandten führende Konzerne eigene Spitzenmänner ins Parlament, wobei der Industriemanager Ulrich Bremi und der Versicherungschef Peter Spälti, beide FDP, über manches Jahr die höchstrangigen Beispiele waren. Drittens verstrebten fast alle grossen Konzerne ihren Verwaltungsrat mit Politikern: Bekannte Beispiele aus den 1990er-Jahren boten der Zuger Markus Kündig (Schweizerische Bankgesellschaft, Zürich-Versicherung, Clariant), der Tessiner Gianfranco Cotti (Schweizerische Kreditanstalt) oder die Zürcherin Vreni Spoerry (Nestlé, Swissair). Viertens wiederum zogen sie Spitzenbeamte auf Managementpositionen nach, wobei insbesondere das Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi) als Grande Ecole für die Privatwirtschaft diente: Ihm entstammten etwa Paul Jolles, der später Nestlé-Präsident wurde, Mario Corti, der via Nestlé bei Swissair landete, oder David de Pury, der dann als Kopräsident des Elektroriesen ABB amtierte. Fünftens bestanden zwischen den grossen Konzernen starke persönliche Verbindungen, wobei einzelne Multi-Verwaltungsräte am Ende direkt in politischen Interessengruppen und bei politischen Prozessen mitredeten: Es waren Allrounder der Macht wie Rainer E. Gut (SKA, Nestlé), Fritz Gerber (ehemals Bawi, dann Zürich, Roche, SKA, Nestlé) und etwas später Walter Kielholz (SKA, Swiss Re). Sechstens wurde dieses Einflussnetz auf tieferen Ebenen kopiert, sodass der Direktor des mittleren Industriebetriebs auch als Kantonalparteichef von FDP oder CVP wirkte und der Prokurist als Gemeindepräsident. Schliesslich, siebtens, war der Gesetzgebungsprozess ohnehin notorisch eng begleitet von den Wirtschaftsverbänden, die mit eigenen Vertretern im Parlament oder in Expertenkommissionen ihre Leitplanken setzten. Und falls die Politik in Versuchung geriet, diese zu durchbrechen, konnte man immer noch mit dem Referendum drohen.
Gelenkt wurde in Hinterzimmern und mit Nebensätzen. «Du, ich vertrete hier die Bahnhofstrasse. Und die will den Vertrag», bemerkte zum Beispiel ein einflussreicher FDP-Mann vor einer Kommissionssitzung übers Qualified-Intermediary-Abkommen mit den USA zu einem SVP-Vertreter. «Also hast du zu schweigen.» Wie ein Beteiligter berichtet, hielt sich der SVPler damals, 1999, brav daran. Recht offen erzählte der Präsident der Grossbank UBS, Marcel Ospel, in kleinerem wie grösserem Kreis, dass er seinen Einfluss geltend gemacht habe, um im Dezember 2003 die wirtschaftsnahen Politiker Hans-Rudolf Merz und insbesondere Christoph Blocher in den Bundesrat zu hieven. «Jüngst haben wir uns erlaubt, bei der Nachfolgeregelung für Finanzminister Kaspar Villiger unsere Meinung einzubringen»: So äusserte er sich wenige Wochen später in einem Interview mit der «Sonntagszeitung». «Wir wünschten uns, dass weiterhin eine Stimme mit derselben Kraft und Ausrichtung im Bundesrat vertreten ist.» Er sei nun «sehr zufrieden» mit der Zusammensetzung der Landesregierung, verkündete der Grossbanker. Und nur wenige Schweizer störten sich damals daran.
Doch schon bald nach der Jahrtausendwende lag dieses System in Trümmern, zerrieben war der Filz. In dramatischem Tempo lernten die Wirtschaftslenker, dass auch sie bangen müssen und verlieren können, sei es im Parlament, sei es beim Volk.
Will man einige Daten auf diesem Weg herausgreifen, so bietet sich zum einen der 6. Dezember 1992 an, zum anderen der 3. März 2013, und zum dritten der erwähnte 9. Februar 2014. Am ersten Schicksalssonntag kassierte das Wirtschafts-Establishment in einer Kernfrage einen schweren Schlag. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR, von der international orientierten Business-Community als schicksalsschwer geschildert, fiel beim Volk durch. Beim zweiten Datum fasste das Wirtschafts-Establishment eine satte Ohrfeige: Das Volk nahm mit einer Zweidrittelmehrheit die «Abzocker-Initiative» an, die sich hauptsächlich gegen die Usanzen der Manager-Entschädigung in den Grosskonzernen richtete. Es war die dritterfolgreichste Initiative aller Zeiten, obschon die Wirtschaftsvertreter mit viel Geld vor den Gefahren gewarnt hatten. Offenbar hatte sich bei den Stimmberechtigten die Vorstellung durchgesetzt, dass es an den Konzernspitzen Leute gibt, die allzu abgehoben sind. Bei der «Masseneinwanderungsinitiative» im Februar 2014 war das Volk schliesslich bereit, den Bruch eines jahrelang eingespielten Vertragsverhältnisses mit der Europäischen Union zu riskieren, im vollen Wissen darum, dass viele Unternehmen darunter leiden würden. «Die Wirtschaft ist in der politischen Arena nicht mehr vorbehaltlos kreditwürdig», resümierte die «Neue Zürcher Zeitung» am 11. Februar 2014.
Wirtschaftsführer gegen Wirtschaftsführer
Bezeichnend war allerdings, dass auf der Gegenseite ebenfalls ausgewiesene Wirtschaftsvertreter zuvorderst gekämpft hatten. 1992 war es ein Industriebaron aus dem Kanton Zürich, Christoph Blocher, 2013 ein Hersteller von Zahnpflegeprodukten aus dem Kanton Schaffhausen, Thomas Minder. Und 2014 beide zusammen. Selbst wenn «die Wirtschaft» bereits in den Jahrzehnten davor keineswegs einem weltanschaulichen Granitblock entsprochen hatte, so waren sich damals doch Binnenindustrie und Exportwirtschaft, Gewerbe und Landwirtschaft, Industrie- und Dienstleistungskonzerne noch genügend nahe, um ihre Interessen auszugleichen und sie dann über die Verbände hinweg durchzusetzen – Vorort, Wirtschaftsförderung, Gewerbeverband, Arbeitgeberverband, Bauernverband. Nun aber trat dem führenden Milieu mit seinen eleganten Adressen an Zürichsee, Lac Léman und Lago di Lugano sowie seinen starken Abordnungen in FDP und CVP eine SVP-nahe Truppe entgegen. Diese hatte ihre Bastionen eher in den Agglomerationen, und sie wusste Vertreter aus Detailhandel, aus neuartigen Finanzboutiquen, aus Transport- wie Bahnunternehmen und überhaupt aus der ganzen inlandorientierten Wirtschaft hinter sich.
In Kernideen war man sich zwar einig – tiefe Steuern, wenig Vorschriften, schlanker Staat. Aber bei anderen Themen waren die Gräben zu weit geworden. Der Grand Canyon verlief dabei entlang der Frage, wie das Verhältnis der Schweiz zum Ausland sowie zu den Ausländern in der Schweiz gestaltet werden solle.
Das, was jeder Stammtisch ab den 1990er-Jahren unter dem Schlagwort «Globalisierung» debattierte, zerrte eben nicht nur zwischen Links und Rechts, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Gewinnern und Verlierern – es zerriss auch die Geschäftswelt. Die Spannungen wurden auf allen Ebenen offenbar. So zum Beispiel, als ab Mitte der 2000er-Jahre plötzlich Maschinenindustrie, Baugewerbe, grafische Industrie und Uhrenindustrie aus dem Dachverband Economiesuisse austraten oder zumindest abzuspringen drohten. Der Bauernverband wiederum bekam es mit Alternativorganisationen aus den eigenen Feldern zu tun; Öko- und Kleinbauernkreise schmiedeten neue Allianzen mit Umweltschützern und Konsumenten, was die politischen Gewichte verlagerte. Fassbar wurde dies in der «Kleinbauern-Initiative», die 1989 nur knapp scheiterte, oder in der Initiative «für eine naturnahe Landwirtschaft», deren Gegenvorschlag 1996 angenommen wurde. In der Finanzbranche wiederum kam es nach der Lehman-Brothers-Krise zu Disputen zwischen Regional-, Privat- und Grossbanken, wobei Spaltungstendenzen innerhalb der Bankiervereinigung noch gut unter dem Deckel gehalten werden konnten; aber auch hier widersprachen sich Bankchefs bald öffentlich in Grundsatzfragen, und im Jahr 2013 befanden es