Wer regiert die Schweiz?. Matthias Daum
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Grounding der Wirtschaftselite
Insgesamt also verloren die Wirtschaftslenker in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts dramatisch an Autorität. Im gefälligen Wachstum der Nachkriegsjahrzehnte hatten sie es sich noch leisten können, weltanschauliche Kritik und soziale Forderungen notfalls mit einigen Konzessionen abzufedern. Nach der Ölkrise aber – dem historischen Wendepunkt vom Dauerwachstum zu stetigen Turbulenzen – kam ans Licht, dass die vermeintlich so trittsicheren Patrons auch furchtbare Versager sein konnten. Im Chiasso-Skandal von 1977 verspekulierten örtliche Kaderleute der SKA Kundengelder, ohne dass das Management in Zürich etwas davon bemerkte. In der Uhrenkrise der 1970er- und 80er-Jahre erlebte das Land, wie eine stolze Traditionsbranche vom Drive der Japaner überrumpelt wurde. Beim Grounding der Swissair 2001 zeigte sich, dass die Schweizerkreuz-Airline, geführt von Prominenten der Wirtschaft, eine groteske Strategie verfolgt hatte. Und schliesslich führte die Finanzkrise ab 2008 jedem vor Augen, dass die grossspurigen Ambitionen und die Wallstreet-Saläre der Schweizer Banker weder durch gutes Risk Management noch durch besondere Finanzkenntnisse oder Kundenfreundlichkeit begründet waren. Uhren, Banken, Swissair: Ausgerechnet in Branchen, welche die helvetische Identität besonders geprägt hatten, versagten die Chefs.
UHREN, BANKEN,
SWISSAIR:
AUSGERECHNET
IN FIRMEN, WELCHE DIE
SCHWEIZERISCHE
IDENTITÄT
GEPRÄGT HATTEN,
VERSAGTEN DIE CHEFS.
1995 hatten einige Spitzenmanager noch einmal versucht, die grossen Leitplanken der Wirtschaftspolitik zu setzen. In «Mut zum Aufbruch», einem sogenannten Weissbuch, forderten 17 Wirtschafts- und Wissenschaftsführer eine liberale Fitnesskur für das Land; zum Beispiel mit einer AHV-Einheitsrente oder der Privatisierung von Post, Arbeitslosenversicherung und SBB. Der ganze Auftritt hatte wenig Erfolg, ja er erntete vor allem Spott, und gerade dies macht ihn so bezeichnend. Obwohl als Weckruf in schwerer Zeit gedacht – die Schweiz litt unter dem Echo einer Immobilienkrise –, dominierten jetzt die Zweifel an den Männern, die da irgendwen aufwecken wollten.
Andererseits machte die Aktion deutlich, dass sich selbst Teile der Wirtschaft «durch ihre Spitzenorganisationen nicht mehr genügend vertreten fühlen», wie der Politologe Adrian Vatter festgestellt hat. Auch habe das Weissbuch eine «Unzufriedenheit über die Spaltung des bürgerlichen Lagers» und die «gestiegene Bedeutung der Medien» zum Ausdruck gebracht. Ähnlich deutet Vatter den im Jahr 2000 von Grossunternehmen gegründeten Think Tank Avenir Suisse: nämlich als Versuch, sich stärker via Öffentlichkeit statt über die politischen Mühlen durchzusetzen und so die eigene Ideenwelt einem breiteren Publikum nahe zu bringen.
Denn mittlerweile fehlten die Wirtschaftskapitäne, die eigenhändig in der helvetischen Milizpolitik mitsteuern konnten. Das Gros der wichtigen Konzernchefs blieb allein schon deshalb aussen vor, weil sie entweder einen ausländischen Pass hatten oder wegen Skandalen in ihrer Firma allzu leicht angreifbar gewesen wären. Nahm man beispielsweise im Jahr 2014 die Chefs und Präsidenten der im Börsenindex SMI erfassten Grosskonzerne, so blieb gerade eine Handvoll übrig, auf die weder das eine noch das andere Hemmnis zutraf. Die politisch einsetzbaren Schlüsselfiguren der Wirtschaft waren rar geworden. Am Ende schien es kaum noch vorstellbar, dass eine einzelne Figur – wie Rainer E. Gut bei der Gründung der Airline Swiss 2002 – mit einigen Telefonaten und abendlichen Sitzungen Milliarden für ein nationales Grossprojekt loseisen könnte.
«Wenn die Wirtschaft politisch so stark wäre, dann hätte sie es nicht nötig, so viele Lobbyisten in die Bundesstadt Bern zu schicken.» So fasst es Serge Gaillard zusammen, der Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung. Gewiss, das Ansehen des Establishments ist allgemein geschwunden, in allen Industrieländern, und das seit Jahren. In der Schweiz jedoch kommen die bissigsten und wirksamsten Angriffe gegen die Wirtschaftselite von rechts. Die Schweizer Manager sahen sich stets weniger herausgefordert durch klassische linke Anliegen wie Arbeitnehmerschutz, soziale Sicherheit oder Umverteilung – hier bleiben Niederlagen wie bei der gewünschten Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge im Jahr 2010 eine Ausnahme. Nein, wirklich ernsthaften Widerstand spüren sie am ehesten deshalb, weil dynamisches Wachstum und Fortschritt offenbar vielen Menschen zu weit geht; die Annahme der Alpeninitiative oder die gescheiterte Strommarkt-Liberalisierung sind Beispiele hierfür.
Das Ende der Schweiz AG
Blockaden ergeben sich auch aus dem Gegensatz zwischen Binnen- und Exportwirtschaft. Ein Paradebeispiel dafür bietet die Abschottung des Marktes für verschiedene Produkte mit zahlreichen Zöllen, Steuern, Auflagen und Verordnungstricks, also in der Konsequenz die oft zu hohen Preise, kurz: die dauerbeklagte «Hochpreisinsel Schweiz». Hier versanden die von Experten wie von wichtigen Firmen und Branchen geforderten Reformpakete, weil andere Firmen und Branchen gar kein Interesse daran haben. Der Riss innerhalb der Bürgerlichen tut sich auch hier auf.
Am Ende hat die Wirtschaft zwar an Macht verloren, doch es bleibt immer noch viel davon übrig. Wer eine Zahl dazu wünscht, der betrachte die Fiskalquote, also die Summe aller Staatseinnahmen im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt des Landes: Diese Rate kletterte zwischen 1990 und 2012 von 24,9 auf 28,4 Prozent. Oder man nimmt die Staatsquote, also den Anteil der Staatsausgaben an der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes: Dieser Wert stieg im selben Zeitraum von 32 auf 35 Prozent. Beides lässt eine Verlagerung der Macht erahnen, ausgedrückt in wirtschaftlicher Potenz – eine Verlagerung hin zur Politik. Doch der Wert zeigt eben auch, dass der Anteil der Privatwirtschaft dominant bleibt, zumal im Vergleich zu anderen Ländern.
DIE
WIRTSCHAFT
KÄMPFT
VOR ALLEM
MIT SICH SELBST.
Der Wirtschaftsdachverband schaffte es selbst nach der Jahrtausendwende, neun von zehn Volksabstimmungen zu gewinnen. Zuverlässig wechselten sich Economiesuisse und Gewerbeverband darin ab, wirtschaftspolitisch wichtigen Wahlgängen ihren Stempel aufzudrücken – mit Kampagnenkassen bis zu zwei Millionen Franken bei weniger bedeutsamen Themen, mit bis zu fünf Millionen Franken für mittlere Kampagnen und mit bis zu acht Millionen Franken für wirtschaftspolitische Kernfragen. Auch im Parlament behalten Know-how, Glaubwürdigkeit und Finanzkraft von Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen viel von ihrer Wirkung. Die Verbände können Gesetzesvorhaben bereits im Entwurfsverfahren eng begleiten; sie pflegen gezielt ganze Parlamentariergruppen, von der Frühstücksveranstaltung über das Kaffeegespräch bis hin zum «Themen-Dinner»; und in jeder Session bringen sie den Volksvertretern mit ausgefeilten Informationspaketen samt Stimmempfehlung die eigenen Interessen nahe. In der grossen politischen Arena von Nationalrat, Ständerat und Volk – dies hat zum Beispiel der Politologe Manuel Fischer nachgewiesen – schafft es eine Mitte-Achse aus FDP, CVP und Economiesuisse mit beeindruckender Regelmässigkeit, die nötigen Pakte für die Anliegen der Unternehmen zu schliessen.
Das Hebeln mit der Macht ist schwieriger geworden für die Wirtschaft, gewiss. Die Politik scheint unberechenbarer. Kaum einer würde es in der Gegenwart noch wagen, den Staat als «Schweiz AG» zu bezeichnen – nachdem mit dem geflügelten Begriff in den 1990er-Jahren noch regelmässig das Verhältnis von Politik und Wirtschaft umschrieben worden war. Die AGs