Wer regiert die Schweiz?. Matthias Daum

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Wer regiert die Schweiz? - Matthias Daum

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war eher mühsam herzustellen, zumal im Vergleich mit Nachbarländern wie Deutschland oder Frankreich, wo das Regierungs-Oppositions-System an sich schon Lagerdruck ausübt. Wirklich problematisch geworden ist die Buntscheckigkeit innerhalb der Schweizer Parteien zwar nicht; im Nationalrat stimmten die Fraktionen nach 2010 sogar geschlossener als in den 1990er-Jahren. Aber zur gewohnten Eigenwilligkeit der Volksvertreter kam, dass die Teamfähigkeit der Parteien gelitten hat. Der alte bürgerliche Bundesratsblock aus FDP, CVP und SVP zerbrach nach 1992, und je nach Thema entstanden andere Parteipäckchen – Päckchen, die manchmal die Akteure selber erstaunten. SVP, CVP und FDP stimmten in der Legislatur 2011–2015 bloss noch bei einem Drittel der Nationalratsentscheide gemeinsam. In 24 Prozent der Fälle verbündeten sich FDP und CVP mit den Sozialdemokraten gegen die SVP. In 13 Prozent der Abstimmungen trat eine Mitte-Links-Verbindung (CVP plus SP) gegen eine Mitte-Rechts-Paarung (FDP plus SVP) an; dies ergaben Auswertungen der Parlaments-Watchsite «Smartmonitor».

      AUSGERECHNET

      DIE WAHLVERLIERER

      GEWINNEN

      AN MACHT.

      Vereinzelt trafen sich gar Sozialdemokraten und Grüne mit den Volksparteilern zur gemeinsamen Blockade. So geschehen 2013 bei einem aufwendig erarbeiteten Sparpaket, welches die Rechte ablehnte, weil sie noch mehr Streichungen wünschte, und die Linke, weil ihr die Sache zu weit ging. Halbwegs nachhaltig wirkten die Links-Rechts-Sperren allerdings nur in einem Feld, nämlich bei der Kontrolle von Banken und Finanzplatz. Hier ergänzte sich die linke Kapitalismuskritik mit einer bodenständigen Skepsis gegenüber der internationalen Hochfinanz. So dass nach 2008 genügend Druck entstand, um in mehreren Gesetzesbestimmungen den Freiraum der Geldbranche zu beschränken. «Du, ich vertrete hier die Bahnhofstrasse»: Auf solch eine Anweisung hätte der SVP-Politiker nun nur noch mit Spott reagiert.

      In der wackligeren Lage wurden jene stark, die Brücken bauen konnten, die mal hier, mal dort einen Verbündeten für ein gemeinsames Projekt fanden. Das hatte merkwürdige Folgen: Die Mitteparteien hatten seit 1983 zwar massiv an Wählerstimmen verloren – im Parlament aber konnten sie ihren Einfluss sogar ausbauen. So landete die CVP in mehr als zwei Dritteln und die FDP in knapp zwei Dritteln der Nationalratsabstimmungen unter den Siegern. Im Ständerat konnten die Mitteparteien ohnehin die Mehrheit bewahren, womit sie im kammerübergreifenden Geben und Nehmen sehr gute Karten hatten. Und selbst bei den Volksabstimmungen waren sie es, die notorischen Wahlverlierer, die am häufigsten als Sieger vor die Fernsehkameras treten konnten.

      Auch da zeigte sich also, dass die Art der Vertretung in den Institutionen oder die formelle Stärke nicht unbedingt entscheidend waren dafür, ob einer viel oder wenig zu sagen hatte im Land.

      La classe politique n’existe pas

      Zu diesem Befund trug bei, dass die Parteien eher schwache Gebilde darstellten. Es waren Organisationen, in denen sich das Milizprinzip noch in recht reiner Form ins 21. Jahrhundert retten konnte. Selbst die Bundesratsparteien leisten sich heute weniger als zwanzig Vollzeitstellen; eine staatliche Finanzierung gibt es nicht, die Budgets und Geldflüsse werden weitgehend geheimgehalten; in den Vernehmlassungsverfahren, einem wichtigen Mittel der Beeinflussung, sind die Parteien lediglich eine Stimme zwischen vielen Verbänden und Gruppierungen; der Kantönligeist sorgt dafür, dass die Direktiven der Parteizentralen in der Anhängerschaft nur begrenzt wirksam sind. Und überhaupt hat die halbdirekte Demokratie den Nebeneffekt, dass sie die Parteien eher schwächt, weil sie anderen Gebilden mehr Möglichkeiten zur Mitsprache gibt. «Die Schweiz ist kein Parteienstaat», lautet denn der ebenso knappe wie klare Einleitungssatz des entsprechenden Kapitels im «Handbuch der Schweizer Politik». Die klassische Einflussachse zwischen Parteizentralen und Parlamentsbetrieb könnte in den letzten Jahren sogar noch etwas schwächer geworden sein, auch, weil auf Bundesebene wie in den Kantonen immer mehr Initiativen und Referenden lanciert, eingereicht und vom Volk angenommen wurden.

      Wer regiert die Schweiz? Jedenfalls keine Strippenzieher oder Kapitäne, die im Parlament mit ein paar Drehungen am Steuerrad zielgenau bestimmen, wohin der Dampfer fahren soll. Keine Parteistrategen oder grauen Eminenzen, die langfristig planen können. Keine «Classe politique», welche wegweisende Beschlüsse beim Diner auskungelt. Die Regierung der Schweiz, so zeigt sich mehr und mehr, ist etwas sehr Organisches. «Als Politiker kann man sich nie direkt durchsetzen, selbst wenn man wüsste, was zu tun ist. Im besten Falle kann man mitbeeinflussen.» So drückte es Christoph Blocher 1995 gegenüber seinem Biografen Wolf Mettler aus. «Das Zermürbende und Frustrierende an der Politik ist die Machtlosigkeit.»

      Zwei Jahrzehnte später quälte ihn dieses Gefühl offenbar immer noch.

EIN TAG IM LEBEN VON NATIONALRAT MÜLLER

      Der Herr Nationalrat, den wir hier Johannes Müller nennen wollen, quält sich um fünf Uhr dreissig morgens aus dem Bett. Es ist ein Dienstag im September, es läuft die zweite Woche der Session, dieses Quartalstreffens der Parlamentarier. Sein Einzelzimmer im Hotel Bern, Zeughausgasse 9, ist seit drei Legislaturperioden dasselbe, also seit seiner Wahl nach Bern, man kennt sich. Der Herr Nationalrat, der nicht zu den bekannten Gesichtern der Bundespolitik gehört, könnte, wenn er denn wollte, auch ohne Licht vom Bett ins Badezimmer finden. 63 Jahre alt ist Müller jetzt, damit liegt er gut zehn Jahre über dem Altersdurchschnitt im Parlament. Nach dieser Legislatur wird Schluss sein, das hat er sich geschworen und seiner Familie versprochen.

      Im Frühstücksraum warten dieselben Menschen wie immer, seine Kollegen und Kolleginnen aus dem Rat, viele junge Frauen sind das unterdessen, denkt Müller immer mal wieder. Er setzt sich zu einem Ständerat aus der Innerschweiz, von dem er weiss, dass er ihn um diese Tageszeit ansprechen darf. Früher, da waren sie hier unter sich, unter Christdemokraten also, die Linken sassen anderswo. Das war, als die CVP noch klar bürgerlich war. Heute sind nicht einmal mehr die Hotels eine sichere Burg. Alles geht durcheinander, man verbündet sich mal mit diesen und mal mit jenen. Die Christdemokraten gefallen sich als Zünglein an der Waage, koalieren mal mit den Rechten, mal mit den Linken.

      Müller und sein Kollege besprechen am Frühstückstisch das, was Männer halt besprechen, wenn ihnen nichts anderes einfällt, Dinge, die der Tag so bringen wird: die anstehenden Traktanden im Nationalrat, das neue Alkoholgesetz, die Änderung des Sanktionenrechts, das Rüstungsprogramm. Müller lebt im Wallis als Bauer, das heisst, er nennt sich noch so, es klingt so gut, so bodenständig. In Tat und Wahrheit stehen natürlich schon lange andere im Stall und auf dem Feld. Aber den Hof, den hat er immerhin noch. Die Politik, sie lässt ihm keine Zeit mehr, dem nachzugehen, was ihm sein Vater, Gott hab ihn selig, beigebracht hat. Der Beruf ist zum Hobby geworden, die Politik zum Beruf.

      DIE POLITIK, SIE LÄSST

      IHM KEINE ZEIT MEHR,

      DEM NACHZUGEHEN,

      WAS IHM SEIN VATER,

      GOTT HAB IHN SELIG,

      BEIGEBRACHT HAT.

      DER BERUF IST ZUM

      HOBBY GEWORDEN,

      DIE POLITIK ZUM BERUF.

      Um sieben Uhr morgens ist Müller, die schwer beladene Aktentasche in der Rechten, zu einem ersten Gespräch verabredet, im «Bellevue», The Leading Hotels of the World, ein befreundeter Bauernlobbyist wartet, man bespricht letzte Details für die Beratung des Alkoholgesetzes im Nationalrat, dem der Ständerat schon zugestimmt hat. Christdemokrat Müller ist Mitglied der vorberatenden Kommission für Wirtschaft und Abgaben, der WAK, die Allianzen mit SVPlern und Grünen sind geschmiedet, die Reihen geschlossen, man wird es schon durchbringen – auch wenn diese Totalrevision gegen

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