Wer regiert die Schweiz?. Matthias Daum

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Wer regiert die Schweiz? - Matthias Daum

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allem im Kampf mit sich selbst.

DIE POLITIKER

      Das Bundesparlament und die Parteien hätten viel zu sagen. Aber sie knebeln sich gern selber.

      Die Regierung regiert. Das Parlament überwacht die Regierung und beschliesst die Gesetze. Die Justiz überwacht die Einhaltung der Gesetze. Die Parteien bündeln die Strömungen im Land und teilen auf, welche Weltanschauung wie viel Einfluss haben soll. In diesem Viersatz der Staatskunde wirkt die Macht geregelt und zugleich verteilt, sie wird fassbar und doch kontrolliert: Checks and Balances. Aber wer mehr Anteile hat, soll mehr zu sagen haben im Staat.

      In der Wirklichkeit jedoch wabert die Macht irgendwie zwischen diesen Institutionen und Verteilschlüsseln. Wer in der Schweiz mitbestimmen will, kann dies auch in den Zwischenräumen der staatlichen Ordnung tun. Keiner zeigt dies besser als Christoph Blocher. Der Unternehmer aus dem Kanton Zürich, geboren 1940, war der wirkungsvollste Schweizer Politiker der vergangenen Jahrzehnte: Darin sind sich Gegner wie Fans recht einig. Doch stets lag dieser Mann schräg in der politischen Landschaft. Er machte die SVP zwar zur einflussreichsten Partei im Land – aber er amtierte dabei meist nur als Präsident der Zürcher Kantonalpartei, am Ende als «Strategiechef» und als Vizepräsident. Er schaffte es zwar in den Bundesrat, aber sein Wirken als Justizminister blieb kurz und vergleichsweise unauffällig. Er sass zwar zwischen 1979 und 2014 mit Unterbrüchen im Nationalrat, aber dort fiel er – über die ganze Zeit gesehen – eher selten durch viel Präsenz, besonderen Fleiss, wichtige Vorstösse oder legendäre Reden auf. Fraktionschef war er nie, und der einflussreichere Ständeratssitz blieb ihm verwehrt: Eine Volksmehrheit konnte er nicht hinter seine Person scharen.

      Zugleich rüttelte Christoph Blocher mit selbst geschaffenen Gruppierungen am Land: so mit der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (Auns, gegründet 1986), dem «Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt» (gegründet 2013) sowie zahlreichen Ausschüssen bei einzelnen Volksabstimmungen. Die mächtigen Wirtschaftsverbände mied er dann allerdings wieder, und Beziehungs-Verwaltungsratssitze hatte er nur zu Beginn seiner Karriere. Als Nationalrat Blocher in seiner letzten Legislaturperiode die Interessenbindungen offenlegte, räumte er nur gerade zwei Familienfirmen, seine Beteiligung bei der «Basler Zeitung» sowie sein Engagement für zwei regionale Kulturstiftungen ein. Selbst Hinterbänkler haben mehr Mandate.

      Im Mai 2014 verkündete Christoph Blocher seinen Rücktritt aus dem Nationalrat mit der Begründung, er «verplemperle» dort eh nur seine Zeit: «Das Parlament hat sich so verbürokratisiert und veradministriert. Das sind praktisch nur noch Berufsparlamentarier. Die machen Sitzungen über völlig nebensächliches Zeugs.»

      Zweifellos: Da traf er einen Punkt. Im Kern des Parlamentsbetriebs steht die dröge Kommissionsarbeit, wo die Volksvertreter vielleicht in der Eröffnungssitzung noch weltanschauliche Ansichten vortragen – um danach stunden-, abende- und tagelang um Details zu schachern: «Wenn ihr diese Formulierung bei Litera C zurücknehmt, akzeptieren wir bei 27 den ganzen Rest.» So wird am Kooperationsabkommen für das Satellitenprogramm Galileo, an der Zulassung für Neonicotinoide oder an der Motion «Solardächer statt Schutzraumpflicht bei Neubauten» gefeilt – derart wird Macht in der Realität umgesetzt. Bereits die grossen Redeschlachten im Plenum sind Randphänomene im Leben der Parlamentarier, auch im Nationalrats- und Ständeratssaal geht die meiste Arbeitszeit für Paragrafen- und Verfahrensgefeilsche drauf.

      Neu ist das nicht. Solche grauen Zustände prägen den Parlamentsbetrieb seit der Staatsgründung im 19. Jahrhundert. Korrekt an Blochers Diagnose war indes, dass sich der Betrieb professionalisiert hatte; zum Beispiel leistete sich das Parlament im 21. Jahrhundert mehr ständige Kommissionen statt irgendwelcher Ad-hoc-Ausschüsse, die sich ihre Protokolle von einem Staatssekretär (vor-)schreiben liessen. Korrekt war auch, dass der reine Milizparlamentarier seltener geworden war, wobei aber gerade damals, im alten Nebenamts-Parlament, dubiose Machtballungen wuchern konnten – unter den Verbandsgesandten, Politik-Direktoren, Kantonsdelegierten, Verwaltungsrats-Sitzern und Interessengruppen-Räten. Nicht umsonst hatte Hans Tschäni 1983 gegen die «Zwillinge Miliz und Filz» gewettert.

      DAS PARLAMENT WIRD

      LÄRMIGER. DIE

      UNRUHE

      IM LAND STEIGT.

      Korrekt war ebenfalls, dass die Volksvertreter selber immer mehr Themen aufs politische Tapet brachten – darunter massenhaft «völlig nebensächliches Zeugs». Die Zahl der parlamentarischen Initiativen, Motionen, Postulate und Anfragen stieg über die Jahrzehnte stetig an, sodass 2014 mehr als 2000 Gesetzesvorgaben und Geschäfte im Parlamentsgebäude darauf warteten, abgetragen zu werden. Es war ein unbezwingbarer Berg. Ein Berg, vor dem der einzelne Politiker, ja selbst eine Fraktion zwergenhaft erschienen: Wer sollte denn unter diesem Hausaufgabenwust effektvoll die Schweiz regieren?

      Das Milizsystem am Anschlag

      Georges Theiler von der FDP hatte schon im Jahr 1999 einen «Vorstoss gegen die Vorstossflut» lanciert. Darin brachte der Luzerner Volksvertreter das Kernproblem in drei Sätzen auf den Punkt: «Die Anzahl der eingereichten Vorstösse beträgt pro Jahr etwa tausend. Diese Flut führt dazu, dass die Wirkung der Vorstösse gegen Null zu sinken droht. Damit raubt sich das Parlament seine eigenen Instrumente.» Ironischerweise scheiterte der Antrag daran, dass das Parlament nicht fähig war, ihn in der vorgeschriebenen Frist zu behandeln. 2009 setzte Theiler mit einer parlamentarischen Initiative nach, ein Jahr später folgte This Jenny (SVP) mit einer «Motion zur Eindämmung der Flut persönlicher Vorstösse» – alles ohne Erfolg. Die Volksvertreter dachten nicht daran, sich zu beschränken.

      Was entstand, war eine gesetzgeberische Hektik, in der einerseits die Parlamentarier eifrig vorstiessen, initiierten, motionierten – sodass andererseits der Freiraum der Bürger tatsächlich enger zuparagrafiert wurde. Im Frühjahr 2014 wies die «Neue Zürcher Zeitung» nach, wie das Hüst und Hott insbesondere das Strafrecht erfasst hatte: Seit 1970 war das Strafgesetzbuch nur vereinzelt angepasst worden, ab den 1990er-Jahren jedoch häuften sich die Neuerungen. Nach 2000 gab es in fast jedem Jahr mehr als drei Revisionen, zweimal waren es sogar deren acht. «Wir bauen Gesetze in immer höherer Kadenz. Wenn wir nicht bremsen, müssen wir aufschreiben, was noch erlaubt ist», liess sich der Aargauer Nationalrat Beat Flach (Grünliberale) zitieren. Georges Theiler diagnostiziert, es fehle den Politikern der Mut zur gesetzgeberischen Lücke: «Offensichtlich herrscht die Illusion vor, man könne menschliche Fehlleistungen mit Gesetzen kontrollieren.»

      Es ist kein Zufall, dass die Hektik gerade das – weitherum beachtete – Strafrecht erfasst hat. Viele erklären den gesetzgeberischen Eifer mit dem Wunsch der Volksvertreter, populistisch aufzufallen: Sie machen Parlamentsarbeit für die Schlagzeilen, Paragrafen für die Galerie. Obwohl die Medien, wie sich noch zeigen wird, gar nicht so entscheidend sind für eine Politikerkarriere, fühlen sich die Volksvertreter einem politisch-medialen Komplex zugehörig, in dem sich beide Seiten innig miteinander beschäftigen; dabei verkehrt man praktischerweise oft per Du. Der Versuchung, der Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit eine süffige Gesetzesidee zu servieren, ganz gleich, ob diese auch wichtig ist, konnten in den letzten Jahren wenige widerstehen. Bei der Wirkung haperte es dann allerdings, wie Georges Theiler zu Recht geahnt hatte. Die Politologen Daniel Schwarz und Adrian Vatter haben errechnet, dass der überwiegende Teil der parlamentarischen Initiativen und Motionen scheiterte. Die Erfolgsquote lag irgendwo zwischen 10 und 15 Prozent.

      Man kann es jedoch auch positiv formulieren: Das Parlament, die direkteste Vertretung des Volkes, erhebt heute seine Stimme gegenüber Regierung und Verwaltung um einiges lauter. Auch das trägt bei zu einer erhöhten Unruhe im Staat Schweiz – einem Phänomen, das hier noch öfters auffallen wird. Seit je pochten Schweizer Parlamentarier auf ihre Unabhängigkeit, sie waren Berufs-, Branchen-, Kantons-,

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