Hungern für die Liebe. Cassandra Light

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Hungern für die Liebe - Cassandra Light

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      Nach dem Besuch meiner Familie schrieb ich wieder in mein Tagebuch.

       Mutti, Papa und Marleen waren hier. Ich habe solche Angst gehabt, dass sie nicht kommen. Mitgenommen haben sie mich nicht. Sie haben gesagt, wenn es mit mir klappt, dann holen sie mich. Papa hat gesagt, wenn ich 45 kg wiege, soll ich ihm Bescheid sagen, er fährt dann sofort los und holt mich hier raus – auch wenn es in der Nacht ist.

       Nach 17 Uhr sind sie gekommen. Ich war im Fernsehen und mir wurde im Fernsehen mit Foto gratuliert. Das hat meine liebe Oma für mich organisiert. Im Fernsehen …

       Ich musste heute den ganzen Tag weinen. So einen schrecklichen Geburtstag hatte ich noch nie. Mutti und Vati waren zwischendurch eine Stunde weg. Sie waren zum Elterngespräch mit anderen Eltern, wo die Kinder auch magersüchtig sind.

       Ich war mit Marleen alleine. Beim Abendbrotessen war sie dabei.

       Als Mutti, Vati und Marleen losgegangen sind, habe ich nicht mehr geweint.

       Sie haben mich aufgebaut. Jetzt will ich auch, dass ich das schaffe mit Weihnachten. Mutti und Vati haben gesagt, ich muss das jetzt hier einmal richtig durchziehen, und dann muss ich hier nicht noch mal her.

       Ich schreibe morgen mehr ein, was ich heute bekommen habe und was mir noch zu heute einfällt.

       Ich habe morgen bestimmt Bettruhe, weil ich heute so viel Kummer hatte und geweint habe. Das macht einem zu schaffen und da nimmt man schnell ab. Ich hoffe aber nicht!

      Nachdem ich diese letzten Zeilen meines Tagebuches abgeschrieben hatte, setzte ich mich am Abend mit meiner Mutter zusammen. Mir brannte die Frage unter den Nägeln, warum sie mich damals nicht doch noch nach Hause geholt hatten. Es wurmte mich und ich wollte sie gerne fragen, wie es ihr und meinem Vater in der Zeit ging. Ich war in der Klinik und konnte nur anhand kurzer Besuche einen Einblick in deren Leben zu Hause gewinnen, weshalb mich auch die andere Seite der Medaille interessierte, um einen vollständigen Eindruck zu gewinnen.

      Meine Mutti erzählte mir, dass für sie, meinen Vater und meine Schwester zu Hause die Welt zusammenbrach. Marleen verstand nicht, warum unsere Eltern mich einfach wegbrachten. Sie vermisste mich und war mehr als sauer. Sie machte auf ihre eigene Art und Weise Stress in der Hoffnung, unsere Eltern würden ihre Meinung ändern.

      Wie ich nun weiß, wollten meine Eltern mir mit dem Klinikaufenthalt eine direkte Einweisung ins Krankenhaus sowie künstliche Ernährung ersparen. Sie konnten nichts mehr tun. Bei dem Gewicht war jeden Augenblick damit zu rechnen, dass ich einen Kreislaufkollaps erlitt und dass ich danach vielleicht nicht mehr wach werden würde.

      Meine Mutter meinte, es sei das Schlimmste, wenn man sein Kind am vollen Essenstisch verhungern sieht. Sie und mein Vater wussten sich keinen anderen Rat und es ging einfach nicht mehr anders, als mich in eine Klinik zu geben. Wir hatten es lange genug zu Hause probiert, doch ich hatte nicht essen wollen.

      Als ich schließlich in die Klinik kam, wäre die erste Maßnahme die künstliche Ernährung gewesen. Meine Eltern setzten sich jedoch immer wieder dafür ein, dass mir dies erspart blieb. Heute bin ich dankbar dafür, denn diese schlimme Zeit und die Unachtsamkeit, mit der man zunehmen musste, war schlimm genug. Meine Seele litt. Körper und Geist waren nicht im Einklang. Künstliche Ernährung wäre so schrecklich gewesen! Flüssigkeitszufuhr entgegen dem eigenen Willen. Gefühlsmäßig geht das fast gar nicht. Man wird vollkommen »gebrochen«. Die Seele schreit.

      Was das Gefühl betraf, kam es in meinem Innern zu einem Bruch. Zu diesem Zeitpunkt war nicht mehr ich der Entscheider in meinem Leben. In der Klinik wurden die Entscheidungen von anderen gefällt, und daran musste ich mich halten. Sicher ging es den anderen Patienten nicht anders. Ob wir dort nun freiwillig waren oder nicht, wir mussten das vorgegebene Leben »mitspielen«. Ich glaube, dass die meisten Patienten unfreiwillig dort waren. Es war eine Notstation, so gut wie jeder akute Fall kam hierher. Von Drogenabsturz bis Psychosen, Epilepsie und vielem mehr. Alles durcheinander auf einer »Kinderstation«. Kinderstation hieß: bis 21 Jahre.

      Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert. Wie in einem falschen Film. Und ich wusste nicht, wie lange dieser Film wohl gehen mochte. Mein Wille – mein Innerstes – wurde »gebrochen«. Ich handelte entgegen meinem Selbst.

      Mir blieb nichts anderes übrig, als das Leben, das mir hier vordiktiert wurde, zu leben. In einer solchen Situation wird einem die Autonomie entzogen.

      Am Tag nach meinem Geburtstag schrieb ich wieder in das Tagebuch:

       Mittwoch, der 06.12.2000

       Ich habe Bettruhe. Heute Morgen habe ich 34,7 kg gewogen. Ich muss jetzt hier einschreiben, denn ich bin schon wieder fast am Weinen. Ich vermisse sie so.

       Ich sage mir aber jetzt, dass sie nächste Woche wiederkommen, und darauf freue ich mich schon.

       So muss ich das sehen, es ist aber gar nicht so leicht. Es fällt mir sehr schwer. Ich habe sie alle lieb. Das ist mir hier drinnen alles noch mehr bewusst geworden. Jetzt sehe ich auch, dass sie sich Sorgen gemacht haben. Papa und Mama sahen gestern ganz schlecht aus. Vor allen Dingen Papa, ich habe ihn noch nie so gesehen und ich habe bemerkt, dass er geweint hat. Das habe ich erst ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, und das war, als seine Oma gestorben ist. Papa sah auch ganz rot und irgendwie komisch im Gesicht aus.

       Ach, wir leiden alle darunter, glaube ich.

       Marleen auch, ich hoffe, dass sie keine bleibenden Schäden hat – psychisch oder schulisch. Das glaube ich aber nicht.

       Wenn das hier alles vorbei ist, dann müssen wir alle zusammen eine Therapie machen. Das hat der Arzt gesagt, denn Marleen leidet mit. Sie hat auch gestern probiert, Mutti und Vati zu überreden, dass ich nach Hause kann. Aber das hat nicht geklappt. Sie hat auch geweint.

       Sie hat mir erzählt, dass Tante Andrea geweint hat und meine Lieblingsoma. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, dass Tante Andrea geweint hat.

       Marleen hat auch erzählt, dass eine Freundin aus der Schule, mit der ich gerne Zeit verbracht habe, angerufen hat. Mutti hat ihr erzählt, dass ich zur Kur bin.

       Meine andere Freundin, mit der ich am meisten zu tun hatte, hat noch nicht einmal gefragt, wie es mir geht, oder Hausaufgaben gebracht. Nichts.

       Das hätte ich mir denken können, sie weiß ganz genau Bescheid.

      Ich war immer schon ein sensibler Mensch, und bereits damals konnte ich feststellen, dass die Welt nicht nur aus guten Handlungen bestand.

      Ich hatte eine gute Freundin, die in dem Dorf wohnte, in dem ich zur Schule ging. Ich erinnere mich, dass ich gerne mit ihr zusammen war. Als dann im Übergang von der 6. zur 7. Klasse der Schulwechsel kam, gingen auch unsere Wege teilweise auseinander. Sie kam auf eine andere Schule als ich, was es schwieriger machte, uns zu treffen.

      Da ich in einem Dorf wohnte und sie in einem anderen, blieb uns nur der Schulbus, der bis 17 Uhr fuhr. Oder unsere Eltern fuhren uns, damit wir uns besuchen oder gemeinsam etwas unternehmen konnten. Mit dem Fahrrad war die Strecke zu weit. Abgesehen davon entwickelte es sich so, dass der Schulstress Zeitdruck mit sich brachte.

      An der neuen Schule fühlte ich mich nicht wohl. Ich

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