Hungern für die Liebe. Cassandra Light
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Ohne Worte …
Am selben Tag schrieb ich weiter. Mit einer Hoffnung, die mich am »Leben« hielt. Die Hoffnung, die mich an diesem Tage getragen hat.
Ich würde auch den Plan (das Grazer Modell) zu Hause durchführen. Ich weiß, dass ich das dann schaffen kann. Hier glaube ich das nicht, denn ich kann schon aus Sehnsucht und Schmerz nicht essen. Mutti und Papi müssen natürlich einstimmen. Wir können es doch probieren, jeden Morgen wiegen und so – alles nach dem Modell. Wenn irgendetwas nicht klappt, dann können sie mich doch sofort wieder herschicken.
Ich wünsche mir das zu meinem Geburtstag. Von Herzen. Hoffentlich sind Mutti und Vati dafür bereit.
Der liebe Gott, du, Diddl Maus, das Schweinchen von Mutti und alle Glücksbringer müssen mir helfen. Ich möchte es wenigstens probieren. Man kann es doch wenigstens versuchen. BITTE!
Die Weihnachtszeit ist doch jetzt, mein Geburtstag und Nikolaus, ach BITTE!
Ich glaube, es ist sehr schwer für Eltern, wenn ein Kind solche Lösungsvorschläge macht.
Ich bin keine Mutter und würde aus meinem Gefühl heraus gegen alle logischen Argumente das Kind mitnehmen und ihm eine Chance geben, das Problem zu Hause zu lösen. Eine Mutter sieht das vielleicht ganz anders. Es ist ja auch eine riesengroße Gefahr und ein Spiel mit dem Leben. Die Verantwortung der Entscheidung trägt in diesem Moment die Familie.
Es sterben circa 15 % an Magersucht, hat der Arzt zu mir gesagt, und ich bin nahe daran.
Gott ist bei uns. Bei Mami, Papi, Marleen und auch bei mir. Er hilft uns.
Ich frage mich, wie ein junges Mädchen oder auch ein erwachsener Mensch – egal wer – damit klarkommt, dass man gesagt bekommt: Du stirbst vielleicht gleich.
Ich bekomme Gänsehaut und es ist komisch ruhig. Anders.
Ich versuche nachzuvollziehen, wie man das verarbeiten kann.
Ich schätze in diesem Fall, dass da eine große kindliche Leichtigkeit war und mir das Ausmaß dessen, was Tod eigentlich bedeutet, nicht vollkommen klar war. Tod bedeutete für mich nicht zwangsläufig das Ende.
Es ist noch heute so, dass ich weiß, dass unser Körper von hier weggeht.
Das ist jedoch nicht das Lebensende. Es ist aus meiner Sicht das Ende hier in diesem Körper, aber es geht auf einer anderen Ebene weiter. Es ist völlig legitim, wenn man das anders sieht. Das hier ist die Meinung, die ich dazu vertrete.
Damals und auch heute.
Der große Unterschied zu damals ist der, dass heute Respekt vor dem Tod da ist. Achtsamkeit.
Ich kann verstehen, dass sich meine Eltern damals für diesen Weg entschieden haben. Zumindest vom Verstand her. Vom Herzen möchte ich es nicht verstehen. Ich kann nicht für sie reden, ich denke jedoch, dass die Angst um das Leben ihres Kindes, die Angst um mich, ihr Handeln bestimmte. Bestimmt fiel es ihnen alles andere als leicht.
Angesichts der Zahlen von damals – 15 Prozent! – ist es ein erschreckender Faktor und ein großes Druckmittel, wie viele Menschen aus seelischen Gründen bei uns verhungern. Verhungern in einer Gesellschaft, die alle erdenklichen Lebensmittel und Luxusgüter bereithält.
Unsere Gesellschaft hat vieles, emotional jedoch kaum etwas zu bieten. Alles Materielle ist gegeben, aber wenig von dem, was die Seele des Menschen nährt. Mit steigendem Materialismus fällt die emotionale Fürsorge. Man kann alles haben, es kann einem an nichts mangeln, und doch kann man in der Tiefe seines Geistes einsam und allein, traurig, gebrochen oder hilflos sein.
In einer Gesellschaft, in der scheinbar genügend Nahrung zur Verfügung steht, starben schon zum damaligen Zeitpunkt 15 Prozent der an Magersucht Erkrankten. Die heutige Recherche ergab, dass in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Menschen, die an Magersucht sterben, um 30 Prozent gestiegen ist. 1,1 Prozent der Frauen und 0,3 Prozent der Männer in den westeuropäischen Ländern sind an Magersucht erkrankt. Das sind die offiziellen Zahlen. Hinzu kommen Menschen, die nicht behandelt werden, die nicht wissen, dass sie krank sind – die Dunkelziffer. (Quelle: statista.com)
Darüber hinaus fiel mir bei der Recherche eine interessante Textstelle auf. Hier hieß es, dass die magersüchtige Person nicht das Problem beziehungsweise der Fehler im System ist. Die magersüchtige Person ist sozusagen das Symptom und »bringt etwas nach draußen«. Sie oder er deckt etwas auf. Die von der Krankheit betroffene Person ist der Ausdruck des Problems, nicht die Ursache.
Dies ist ein wichtiger Fakt, den es zu erwähnen gilt. Er mag dem Leser als Hintergrundinformation dienen. Diese Information erscheint mir plausibel und nachvollziehbar. Sie ist jedoch nicht das »Gesetz«.
Ich habe mir noch nie etwas so gewünscht wie jetzt. Mein einziger Geburtstagswunsch ist, dass ich nach Hause darf und wir es da mit dem Modell probieren.
Ich würde dann auch nicht zur Schule gehen, erst im zweiten Drittel des Modells. Bloß Mutti und Vati müssen ja sagen. Meine Chancen stehen aber kaum gut. Fast gar keine Chance besteht.
Ich hoffe nur, der liebe Gott steht mir bei und probiert es, dass sie ja sagen. Ein Versuch ist es doch wert, oder?
Ach BITTE, ich wünsche es mir so sehr.
Ich vermisse sie. Am liebsten würde ich jetzt mit allen dreien über den Weihnachtsmarkt schlendern.
Alles duftet und sieht nach Weihnachten aus. Zusammen basteln, Gestecke machen, Fenster schmücken, in der Stube sitzen. Schön weihnachtlich.
Ach wäre das schön, bei ihnen zu sein. Ich würde auch alles dafür tun, doch sie lassen mich bestimmt nicht, denn ich könnte auch schnell sterben, wenn etwas danebengeht.
Aber ich würde versprechen, dass nichts danebengeht – wirklich.
Hilf mir doch bitte, lieber Gott. Ich vermisse sie.
Es ist erstaunlich, was für eine Sicherheit hinter diesen Worten steckt. Die Sicherheit und das damalige Vertrauen in mein Leben – das Vertrauen, dass ich nicht daran sterben würde. Die Gewissheit, dass es noch nicht an der Zeit war zu gehen. Vielleicht auch gemischt mit Leichtsinn oder der gespürten Grenzenlosigkeit. Dem Körper kaum Essen zuzuführen war mehr, als nur über körperliche Grenzen zu gehen. Es war quasi selbstverständlich, die Warnsignale des Körpers zu überhören und trotzdem zu leben.
Im Gegensatz zu Zeiten vor der Klinik. Zu diesen Zeiten hatte ich, wie bereits beschrieben, des Öfteren das Gefühl, mein Herz würde bald stehen bleiben und es wäre vorbei. Daran kann ich mich sehr genau erinnern. Ich erinnere, dass ich im Bett lag und mein Herz kaum noch schlug. Kurz vor dem Ende.
Da war diese Sicherheit am Wanken.
Ich kann nicht dafür garantieren, wenn ich sage, dass ich anhand dieses Wissens den Vergleich ziehen darf, dass ich es innerlich gespürt hätte, wenn das Ende nah war. Ich glaube, ich hätte es gemerkt, denn da kann man nicht mehr drüber hinwegsehen.
Montag, der 04.12.2000