Alles anders, aber viel besser. Dagmar Glüxam

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Alles anders, aber viel besser - Dagmar Glüxam

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zu vermitteln – ein durch und durch aussichtsloses Unternehmen. Meine Eltern suchten einen Schuldigen und fanden auch bald einen. Meine anspruchsvolle Schwägerin, die meinen Bruder angeblich zu Höchstleistungen antrieb, sollte allein die Verantwortung für dieses Desaster tragen. Die Selbstverantwortung meines Bruders für sein Leben und ihren eigenen Anteil am Größenwahn meines Bruders wollten und konnten meine Eltern nicht sehen.

      Ich saß in der Falle. Einerseits überfielen mich tiefe Trauer und Depression, andererseits war ich gezwungen, aufgrund meines Stipendiums täglich stundenlang Archivmaterial zu sichten, Tonnen Fachliteratur zu lesen und mich um Wohnung, Haus und Garten sowie meine zwei Kinder zu kümmern. Meine Tochter war drei und im Trotzalter, mein Sohn dreizehn und in der Pubertät. Dazu kam, dass die zwei sich damals absolut nichts zu sagen hatten und sich gegenseitig permanent sabotierten.

      Heute verstehe ich, was mir meine Psychotherapeutin damals auf der Kur riet: »Bürden Sie sich immer nur so viel Arbeit auf, wie sie auch unter geänderten, erschwerten Umständen noch bewältigen können.« Wenn ich genau überlege, war bereits die Kombination von einem kleinen und einem pubertierenden Kind plus Dissertation und danach Habilitation eigentlich um zwei Nummern zu groß. Insbesondere dann, wenn keine funktionierende Oma in der Nähe war. Der Tod meines Bruders und mein daraus resultierender Schock sowie die Unfähigkeit, bei so viel Arbeit die Situation und die Trauer zu bewältigen, machten aus meiner damaligen Aufgabe eine Rakete, mit der ich mich ins Weltall weiterer Katastrophen katapultierte.

      Mein Körper begann, sich erneut zu melden. Zu den regelmäßigen Kollapsen diverser Art – einer davon führte mich vom Skiurlaub mit Blaulicht direkt ins Krankenhaus – kam eine harmlose Schulterverletzung, die sich aufgrund eines Behandlungsfehlers zu einer äußerst schmerzhaften und langwierigen Erkrankung entwickelte. Ich kann mich noch erinnern, wie ich in der Bibliothek saß und wegen starker Schmerzen kaum mehr die Tastatur meines Computers bedienen konnte. Die Tränen liefen mir herunter, ich wusste aber, dass ich, sollte ich alle Vorgaben erfüllen, sitzen bleiben und arbeiten musste.

      So vegetierte ich irgendwie dahin, war auf einer Rehabilitationskur, wo man mich gewissermaßen »wiederherstellen« konnte, bis mich ein weiterer Schlag erwischte. An einem Oktobersonntag 2004 rief mich zu Mittag wiederum meine Mutter an. Diesmal teilte sie mir mit, dass auch meine Schwägerin, die Frau meines Bruders, plötzlich verstorben war. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen; ich dachte, ich halluzinierte bereits. Was niemand ahnte, weil meine Schwägerin es sehr gut zu kaschieren wusste: Nach dem Tod meines Bruders begann sie aus purer Verzweiflung über ihre hoffnungslose Situation zu trinken. Sie war nicht in der Lage, die hohen Firmenschulden, die nicht ausreichend vom Privatvermögen getrennt waren, zu bewältigen. An jenem Sonntagmorgen platzte eine Ader in ihrer Speiseröhre und sie verblutete innerhalb von wenigen Minuten.

      Meine Familie löste sich auf. Ich konnte nicht begreifen, dass die Menschen, die mir so nahe standen, so einfach und viel zu früh starben. Zugleich fühlte ich mich für die Kinder verantwortlich, insbesondere für meine damals 18-jährige Nichte. Dieser Verantwortung zusammen mit meinen eigenen Verpflichtungen und auf die Distanz von fast über 400 Kilometern nachzukommen, war jedoch beinahe unmöglich. Auch zog sich das Mädchen, das aufgrund der Ereignisse schwer traumatisiert war, zunehmend zurück. Da meine bereits älteren und kranken Eltern mit der gesamten Situation überfordert und noch immer ausschließlich mit dem Verlust ihres Sohnes beschäftigt waren, konnten sie meiner Nichte nicht das geben, was ich mir vorgestellte. Ich sah das Mädchen vor mir, das mit fünfzehn Jahren ihren Vater und mit achtzehn ihre Mutter verloren hatte, und redete meinen Eltern zu. Ohne Erfolg. SIE wollten getröstet werden, sie waren einfach nicht in der Lage, jemand anderen zu trösten. Und so begann in jener Zeit eine schwere familiäre Krise, die noch Jahre andauern sollte.

      Die familiären Katastrophen, der Dauerstress in meinem Job sowie die berufliche Hyperaktivität meines Mannes führten langsam, aber sicher dazu, dass auch meine Ehe sich im berüchtigten siebenten Jahr in einer Krise befand. Mein Mann verbrachte damals die Tage in der Ordination und in der Berufsschule, wo er als Schularzt arbeitete, die Abende als ausgezeichneter und leidenschaftlicher Geiger als Konzertmeister in einem Hobbyorchester und in zahllosen Proben für sein damaliges Streichquartett, die Nächte oft in den Nachtdiensten. Vor einiger Zeit bekam ich zufällig unseren Terminkalender aus der damaligen Zeit in die Hände. Noch nach Jahren ließ bereits der bloße Blick auf die vollgefüllten Zeilen mein Adrenalin heftig ansteigen. Damals fühlte ich mich allein gelassen und nur die starke gegenseitige Zuneigung, also die gute Basis unserer Beziehung, konnte den Zerfall unserer Ehe verhindern.

      Auf dem Höhepunkt der Schwierigkeiten erreichte mich die dritte Hiobsbotschaft. Einer meiner engsten Freunde und Kollegen, der Cellist Christoph, war nach fünfzehnjährigem Kampf gegen Hodenkrebs mit 40 Jahren gestorben. Christoph war ein ungemein talentierter Mensch, ein toller Musiker, mit dem ich mein Ensemble auf historischen Instrumenten aufgebaut hatte, ein witziger, intelligenter und lebensfroher Mann. Als ich von seinem Tod erfuhr, weinte ich hemmungslos. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, fühlte mich von allen verlassen und allein gelassen. Freilich war der Verlust meines Bruders ein enormer Verlust für mich; mit Christoph konnte ich mich aber über alles unterhalten und Ideen entwickeln wie kaum mit jemand anderem. Christoph war homosexuell – vielleicht deshalb konnte sich unsere Freundschaft so prächtig und ungestört entwickeln. Er lebte mit seinem Freund in der Bretagne, wo ich ihn mit meiner Familie öfters besuchte. Durch seinen Tod verlor ich einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben.

      Mein Körper ruft nach Hilfe

      Heute, nach sechs Jahren, weiß ich eigentlich gar nicht mehr, wie es mir gelang, meine Habilitationsschrift mehr oder minder termingerecht zu beenden und danach noch bravourös das ganze Habilitationsverfahren zu meistern, das zu meiner Qualifikation als Universitätsdozentin führte. Neben meiner Lehrtätigkeit an der Universität schrieb ich unter nie enden wollendem entsetzlichem Termindruck unzählige wissenschaftliche Arbeiten, gab Noteneditionen heraus, verfasste und illustrierte Kinderbücher, kümmerte mich um meine Familie, drei Katzen und einen Hund, stritt regelmäßig und heftig mit meinem widerborstigen und jeden schulischen Ehrgeiz verweigernden Sohn, pflegte Wohnung, Haus und Garten in F. und entwickelte auch beim Tomaten- und Karottenanbau ungeheuren Ehrgeiz.

      Die Tomaten gediehen prächtig, ich dagegen verlor die letzten Reste meines Glanzes. Auch hörte ich auf, Geige zu spielen, so wie mir Musik überhaupt prinzipiell auf die Nerven ging. Im Gegensatz zu meinem Mann, der sozusagen nicht einmal das Zähneputzen ohne eine Bruckner-Symphonie absolvierte, schaltete ich sofort jedes Radio aus; das Anhören von CDs wurde bei uns zu Hause beinahe ein Tabu. Heute deute ich diesen völligen Verzicht auf meine einstige Leidenschaft als Alarmstufe Rot. Alles, was ich früher leidenschaftlich gern gemacht hatte, freute mich nicht mehr. Die Fotos aus der Zeit zeigen eine Frau, die erschöpft und ohne jeden Funken Freude in den Augen wirkt. Heute spiele ich wieder meine heiß geliebte Violine in diversen Konzerten und freue mich über jede gute Musik.

      Weitere »Zwischenfälle« kamen dazu. Zum Beispiel wurde meine rechte Gesichtshälfte plötzlich völlig gefühllos. Ich wollte gerade aus F. nach Wien fahren, da bemerkte ich, dass es mich große Mühe kostete, den Wagen richtig zu steuern, als ob mich eine unsichtbare Kraft stets nach rechts ziehen würde. Mein Sohn hatte damals noch keinen Führerschein, so blieb mir also nichts anderes übrig, als es unter größter Anstrengung irgendwie nach Wien zu schaffen. Heute weiß ich, dass ich damals äußerst fahrlässig gehandelt habe, und danke Gott, dass uns nichts passiert ist. Zu Hause angekommen besprach ich die Lage mit meinem Mann, der mich sofort ins Wiener AKH schickte. Nach dreistündigem Warten und einer zehnminütigen Untersuchung kam heraus, dass ich nur leichtes Fieber und möglicherweise eine Entzündung des Hirnstammes hatte. Da ich mir – bis zum Hals in meinem Arbeitswahn versunken – nicht vorstellen konnte, ein paar Verpflichtungen abzusagen und mich gründlich untersuchen zu lassen, schob ich lediglich drei Tage Erholung ein. Die Lähmung verschwand, sie blieb ungeklärt und ich begann nach diesem Zwischenfall ziemlich schnell wieder dort, wo ich aufgehört hatte – mit ein paar zusätzlichen Aufträgen

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