Mehr ausbrüten, weniger gackern. Andreas Müller
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Der Begriff setzt sich zusammen aus autos = selbst, aus eigener Kraft und ágein = führen. Autagogik bezeichnet ein übergeordnetes Konzept für selbstkompetentes, selbstwirksames Lernen. (Müller 2002/2004 / Fuchs 2005) Es versteht sich als «Bezeichnung für ein didaktisches Lehr-Lernarrangement mit dem Ziel einer selbstwirksamen Kompetenzerweiterung im schulischen Kontext. Selbstwirksam lernen bedeutet, dass Lernende sich ihre eigenen, ihnen sinnvoll erscheinenden Ziele setzen, die sie dann entsprechend ihren eigenen, ihnen bedeutsam erscheinenden Strategien gemäss verfolgen und umsetzen.» (Fuchs 2005)
Ein Beispiel: Vor der letzten Fussballweltmeisterschaft, das Panini-Fieber hat die westliche Zivilisation erfasst. Unzählige Kinder landauf, landab haben die farbigen Bildchen gesammelt. Und wie! Mit Eifer. Mit Begeisterung. Mit Ausdauer und Beharrlichkeit. Sie kannten plötzlich Länder, von deren Existenz sie zuvor nicht den Dunst vom Schimmer einer Ahnung gehabt hatten. Und Kinder, die normalerweise keine zehn Französisch-Vokabeln auf die Reihe kriegten, kannten mit einem Mal Spieler, deren Namen wesentlich komplizierter klangen als irgendein unregelmässiges Verb im Passé simple. Unselbstständige Schüler entwickelten Erfolgsstrategien, die ihnen kein Paidagogós beigebracht hatte. Und selbst solche, die sich eigentlich gar nicht für Fussball interessierten, fanden sich in kürzester Zeit in der Welt der Mannschaften und der Spieler zurecht.
Pädagogik | Autagogik |
Aus griech. pais, paidos «Kind, Knabe» und griech. ágein «führen». Kinder-, Knabenführer. Bezeichnete ursprünglich einen Sklaven, der die Kinder in die Schule und wieder zurück nach Hause geleitete. | Zusammengesetzt aus griech. autos «selbst, aus eigener Kraft» und ágein «führen». Übergeordnetes Konzept für selbstkompetentes, selbstwirksames Lernen |
• Handlungsleitendes Prinzip: Lehren | • Handlungsleitendes Prinzip: Lernen |
• Aktivitätsschwerpunkt beim Lehrer. Stichwort: Fremdsteuerung | • Aktivitätsschwerpunkt beim einzelnen Lernenden. Stichwort: Selbststeuerung |
• Lernen = Übertragen, Vermitteln von Wissen | • Lernen = individuelle Konstruktion von Wissen, Können und Wollen |
• Auf der Suche nach Defiziten, gegen die etwas getan werden soll. | • Auf der Suche nach Ressourcen, für die etwas getan werden soll. |
• part of the problem | • part of the solution |
• Schüler | • Lernpartner |
• Kollektive Ziele und Verbindlichkeiten als Kleinstes gemeinsames Vielfaches | • Individuelle Ziele und Verbindlichkeiten. Anerkennen von und Arbeit mit Unterschieden |
• Leistungsvergleich am Klassendurchschnitt (Punkte, Zensuren) | • Individueller Leistungsvergleich an transparenten Standards/Referenzwerten (Referenzieren) |
• Linear | • zirkulär |
• adaptiv | • antizipativ |
Lehrer | |
• Arbeit im System | • Arbeit im System und am System |
• Lehrer, Wissensvermittler | • LernCoach |
• Cage on the stage | • Guide on the side |
• Systemfokus: Klasse | • Systemfokus: Schule |
Das heisst: Die Kinder offenbarten all jene Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihnen das Dasein in der Schule wesentlich erleichtern würden. Das heisst weiter: Sie könnten es eigentlich. Wenn es darauf ankommt. Wenn es für sie darauf ankommt.
Autagogik zielt darauf ab, das «Panini-Prinzip» auf schulisches Lernen zu übertragen. Der Aktivitätsschwerpunkt liegt beim Lernenden. Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung sind Stichworte dazu. «Lernen wird verstanden als Folge von individueller Konstruktion von Wissen, Können und Wollen. (...) Wissen wird zirkulär gebildet: über Erfahrungslernen, Nachdenken über das Lernen und antizipatives Verhalten.» (Fuchs 2005)
In einem autagogischen Denken braucht es nicht mehr den «Knabenführer».
Vielmehr braucht es Menschen, die Lernende dabei unterstützen, sich auf eigenen Wegen die Welt zu erschliessen, sie fassbar und lesbar zu machen, sich in dieser Welt zu erfahren und zu erproben.
Auf einer solchen Reise, so Renate Girmes, «wird er oder sie Fremdes kennen lernen und sich zu eigen machen können, wird neue Freunde und interessante Gesprächspartner finden, mehr wissen, Verständnisse überdenken und revidieren und neue Einsichten gewinnen. (...) In Wirklichkeit ist unterrichtliches Reisen selten so – weil Unterricht selten ‚gut’ ist? Weil man sich als lernbegieriger Unterrichtsreisender nicht selten wie ein Pauschaltourist in einer Reisegruppe von Busgrösse mit einem festen gemeinsamen Besichtigungsprogramm und den dazu passenden Standarderläuterungen wiederfindet, immer zusammen als Gruppe, orientiert am jeweiligen Busparkplatz und den Hauptsehenswürdigkeiten?» (Girmes 2004). Kommt dazu: Reiseführer, die schon zum hundertsten Mal gelangweilten Gruppen von Pauschaltouristen die gleichen Geschichten und Jahrzahlen heruntergespult haben, laufen mit der Zeit Gefahr, die Inspiration zu verlieren. Davor sind auch die schulischen Reiseführer nicht gefeit. Zumal die Kinder und Jugendlichen mit immer vielfältigeren und divergierenderen Ansprüchen zum Unterrichtskonsum erscheinen.
Die Pädagogik hat – zumindest begrifflich – eine lange Tradition. Nicht ganz so weit in die Geschichte zurück reicht das Schulsystem, das mit diesem Begriff operiert. Aber immerhin. Anderthalb Jahrhunderte hat die Volksschule auch schon auf dem Buckel. Sie hat in dieser Zeit reichlich Fett angesetzt. Und sie funktioniert deshalb im Kern noch immer nach den gleichen Mustern: Jahrgangsklassen, Lektionen, Fächer, Prüfungen, ...
Die damaligen Ideen für die Gestaltung des Schulwesens entsprangen dem damaligen Denken und orientierten sich an den damaligen Bedürfnissen. Und man muss nicht hundertfünfzig Jahre alt sein, um festzustellen, dass sich einiges verändert hat in Gesellschaft und Wirtschaft. Radikal verändert sogar. Das müsste eigentlich Anlass genug sein, die Schule ähnlich radikal zu verändern. Und das hiesse dann eben beispielsweise: von der Pädagogik zur Autagogik.
Zehn Merkmale der Volksschule des 19. Jahrhunderts
nach J.C. Hirzel, 1829(!)
1 Unterrichtsfächer
2 Lehrstoff und Lehrmittel
3 Jahrgangsklassen
4 Klassengrösse
5 Stundenplan
6 Lehrerausbildung
7 Jahresbesoldung
8 Prüfungen
9 Lehrerwahl und -entlassung
10 Schulaufsicht
Megatrends
Der Blick aus dem Schulhausfenster zeigt: Aha, da passiert etwas in der «richtigen» Welt. Wenn die Schule nicht den Anschluss verpassen will, muss sie erst einmal lernen, mit Veränderungen umzugehen. Denn im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft hat sie in dieser Beziehung keine Tradition. Keine Übung. Klar standen immer irgendwelche «Reformen» ins Haus. Passiert ist zwar nicht wirklich etwas. Dafür hat sich eine veritable Aufregungskultur entwickelt. Kurzatmig, in hektischem Aktionismus wird reformiert, was das Zeug hält.
Ein neues Zeugnisformat, eine Wochenlektion mehr oder weniger, die Einführung von Blockzeiten, solche und ähnliche Dinge lösen Diskussionen aus, und alle laufen wie aufgescheuchte Hühner durchs Gehege, als ob es tatsächlich um etwas gehen würde. Von wegen: Das sind bei Lichte besehen doch Peanuts. Marginalien. Die Änderungen, die eigentlich anstehen würden, die sind viel grundsätzlicher. Und die gingen ans Eingemachte.
Im wesentlichen sind vier Megatrends (Trend =