Amokdrohungen und School Shootings. Armin Himmelrath
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Amokdrohungen und School Shootings - Armin Himmelrath страница 6
Was als journalistische Ethik für den Bereich der Suizidberichterstattung formuliert wird, lässt sich in seinen Überlegungen problemlos auf die Darstellung von angedrohten oder tatsächlich durchgeführten Schulanschlägen übertragen. Viele Amokläufer planen ihre Tat letztlich als erweiterten Selbstmord. Zahlreiche Jugendliche, die drohen oder zum Täter werden, beziehen sich bei der Rechtfertigung ihres Handelns immer wieder auf andere Schulattentäter und die Berichte in den Medien über deren Taten. Daher häuft sich sowohl im Anschluss an konkrete Fälle als auch zu Jahrestagen bestimmter Schulanschläge (etwa des Massakers in der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado am 20. April 1999) die Zahl der Drohungen durch Trittbrettfahrer.
1.5Verschweigen chancenlos
Betrachtet man das Verhalten der Drohenden aus aufmerksamkeitsökonomischer Sicht, so handeln sie hochgradig rational und zumeist erfolgreich. Sie wissen, dass ein angekündigter Schulanschlag sich auch ohne Berücksichtigung in den klassischen Medien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen schnell herumspricht. Und weil die kommunikative Vernetzung durch Online-Medien und soziale Netzwerke so groß ist, wird ein Totschweigen wegen der hohen Zahl der Beteiligten und Betroffenen schlicht unmöglich. Wird eine Klasse oder eine Schule evakuiert, gibt es garantiert Schüler, die das sofort kommunizieren. Die Tatsache, dass auf Facebook und Twitter, per WhatsApp und SMS solche Gerüchte oder Berichte verbreitet werden, setzt auch die professionellen Medien unter Druck: Sie wollen und sollen schließlich über das berichten, was die Leserinnen und Leser bewegt. Taucht das Ereignis in professionellen Medien auf, wirkt sich das auch verstärkend auf die Aktivität in den sozialen Netzwerken aus. Die Kommunikation nährt sich gewissermaßen gegenseitig, ohne dass der Amokdrohende weiter aktiv sein muss. Kurz gesagt: Das Verhältnis zwischen eigenem Handeln und öffentlicher Aufmerksamkeit geht so weit auseinander, dass eine Amokdrohung schnell als leicht durchzuführende Aktion mit maximaler Wirkung und Resonanz empfunden wird.
Der Täter will der Schule beziehungsweise konkreten Personen drohen und Angst machen. Er will seine Macht gegenüber der Institution oder bestimmten Individuen zeigen. Durch eine entsprechende Drohung – von der Wandschmiererei bis zum Facebook-Eintrag, vom Drohbrief bis zur persönlichen Äußerung im Gespräch oder im Chat – kann er dafür sorgen, dass eine Kommunikationskette in Gang gesetzt wird, die er nach dem Anfangsimpuls letztlich ohne weitere Aktivitäten beobachten kann und die sich bis zur Berichterstattung über das Thema in den professionellen Medien immer weiter hochschaukelt. Je nachdem, ob er die Drohung anonym oder namentlich veröffentlicht, wird er sich für eine solche Amokankündigung rechtfertigen müssen. Doch zuvor kann er mit einem einzigen Satz ein Gewirr aus Informationen und Gerüchten, Angst und Schutzmaßnahmen, Untersuchungen und anderen Reaktionen in Gang setzen und damit zeigen, wie viel Macht er über die Schulgemeinschaft hat. Schematisch lässt sich das anhand der folgenden Grafik verdeutlichen.
Abb. 2: Aufmerksamkeitsökonomie einer Amokdrohung
Sollte es bei Lehrern oder Schulleitungen die Hoffnung gegeben haben, die Drohung eines Schulanschlags verschweigen zu können und damit dem Täter durch Entzug der öffentlichen Aufmerksamkeit die Belohnung für seine Drohung vorzuenthalten, so dürfte sich diese Hoffnung spätestens seit der Rund-um-die-Uhr-Vernetzung der Schülerinnen und Schüler durch Smartphones zerschlagen haben. Das Gerücht über eine Anschlagsdrohung kann sich in weniger als einer Schulstunde unter den Schülerinnen und Schülern verbreiten. Bei mehreren hundert oder tausend potenziellen Betroffenen an einer Schule ist es eine Illusion der Schulleitung, wenn sie glaubt, ein Informationsmonopol bei von außen herangetragenen Kommunikationsinhalten zu haben. Die geschilderte Situation lässt deshalb nur einen logischen Schluss zu: einem massiven Eingriff in den alltäglichen Schulfrieden, den eine Amokdrohung darstellt, sollte vonseiten der Bildungseinrichtung mit Entschlossenheit und mit zuvor entwickelten Kriterien und Handlungsoptionen entgegengetreten werden. Im Idealfall werden diese Handlungsroutinen von einem Präventionsprogramm begleitet, das frühzeitig greift und sich mehr auf das Schulklima an der eigenen Institution als auf die Identifikation potenziell gefährlicher Schülerinnen und Schüler konzentriert. Um Amokläufe und Amokdrohungen frühzeitig erkennen und präventive Maßnahmen ergreifen zu können, müssen sich Lehrkräfte wirksam mit dem Klima des Miteinanders an der eigenen Schule oder an der eigenen Bildungsinstitution auseinandersetzen. Gegenseitige Achtsamkeit und ein respektvoller Umgang miteinander sind ursprüngliche Präventionsmaßnahmen, um nicht erst potenzielle Täterpersönlichkeiten entstehen zu lassen. Einige wichtige Bereiche, die ein solches Schulklima prägen, werden im Kapitel 3 genauer vorgestellt, darunter die Themen: der Unterricht mit seinen alltäglichen Demütigungen, mögliche Mobbing-Vorkommnisse, der Bereich des Cyberbullyings und die Feedback-Kultur an der Schule.
1.6Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?
Um sich auf Amokdrohungen gegenüber der eigenen Schule, den Schülern und Kollegen vorzubereiten, müssen Lehrkräfte weder eine Einzelkämpferausbildung noch jahrelange Fortbildungen etwa in psychologischer Krisendiagnostik absolvieren. Der Schritt hin zu einem präventiv wirksamen Umgang miteinander und zu einer gestiegenen Aufmerksamkeit für kritische Situationen ist weniger kompliziert, als es möglicherweise den Anschein hat.
Natürlich lässt es sich nicht vermeiden, im Sinne einer wirksamen Vorbereitung das unangenehme Thema einer möglichen Amokdrohung und den Umgang damit genauer zu beleuchten. Wie schon zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, ist ein Schulanschlag einer der radikalsten und schwerwiegendsten Einbrüche in den Schulalltag – so radikal und Grenzen verletzend, dass schon die Drohung damit Unsicherheiten und Ängste auslösen kann. In einer solchen, emotional aufgeladenen Situation ist Handlungssicherheit ein entscheidender Faktor, um die Krise erfolgreich bewältigen zu können. Diese Handlungssicherheit erreicht man durch das Entwickeln und Einüben bestimmter Prozeduren. Das setzt voraus, dass Lehrerinnen und Lehrer die Bereitschaft entwickeln, realistisch mit dem Thema umzugehen und im Team zu besprechen, was im Falle eines Falles zu tun ist. Ein Schulanschlag tritt nicht erst dann ein, wenn sich ein bewaffneter Täter auf dem Schulgelände bewegt, sondern bereits frühzeitig vor der Tat oder Drohung, wenn sich innerhalb der Schulgemeinde Ausgrenzungen und Spaltungen vollziehen.
Pädagogen können Rahmenbedingungen guten Lernens identifizieren und initiieren – das haben sie in ihrer Ausbildung gelernt und dieser Aufgabe stellen sie sich auch im täglichen Unterricht. Schon heute schauen sie deshalb auch genauer hin, wenn diese Rahmenbedingungen nicht gegeben oder stark und nachhaltig gestört sind. Hier bedarf es nur eines kleinen Gedankenschritts, um an diese ohnehin vorhandene pädagogische Aufmerksamkeit gedanklich anzuknüpfen und gegebenenfalls die Verbindung zum Themenbereich Anschlagsprävention herzustellen. Lehrerinnen und Lehrer können sofort aktiv werden, auch wenn die Forscher verschiedenster Disziplinen noch keinen Prototypen des typischen Attentäters erstellt haben und das Phänomen des Schulanschlags weiterhin untersucht wird. Insbesondere die Drohung mit einem Amoklauf war bisher nur vereinzelt im Fokus der entsprechenden Untersuchungen. Daher werden im nächsten Kapitel solche Drohungen aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet.
1Cornel, H./Kawamura-Reindl, G./Maelicke, B./Sonnen, B. R. (Hrsg.): Resozialisierung. Handbuch. 3. Aufl., Nomos: Baden-Baden 2009, S. 73
2Graitl, L.: Sterben als Spektakel. Zur kommunikativen Dimension des politisch motivierten Suizids. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2012
3Faust beruft sich auf den Artikel: Ziegler, W./Hegerl, U.: Der Werther-Effekt. In: Nervenarzt. Ausg. 1/2002. Springer Verlag: Berlin 2002, S. 41ff. (www.ipsilon.ch/uploads/media/Werther-Effekt_1__01.pdf)
4vgl.