Das letzte Steak. Hansjörg Anderegg
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»Cromwell!«
Der Kater strich ihm um die Beine, dann schüttelte er sich und protestierte mit der heiseren Stimme des fortgeschrittenen Alters. Thomas kraulte ihm beruhigend den Hals.
»Um dich kümmert sich auch niemand mehr, tut mir leid.«
In der Küche fand er noch eine Büchse mit Katzenfutter. Er schob Cromwell den Teller hin, doch der Kater sah ihn nur an und stieß sein lang gezogenes, weinerliches Krächzen aus, mit dem er sonst die Krähen erschreckte.
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, murmelte er. »Warte hier, ich bin gleich zurück.«
Er klingelte bei der Nachbarin und bat sie um ein Ei. Cromwell war süchtig nach Eigelb, und er hatte etwas Gutes verdient.
»Gibt es Nachrichten von Felicity?«, fragte die Frau nach kurzem Zögern.
Er schüttelte den Kopf. »Sie mussten die Suche einstellen – bei diesem Wetter.«
»Es tut mir so leid, Thomas. Ich bete jeden Tag für sie.«
Das hatte er aufgegeben. Wenn es einen Herrgott gäbe, müsste er ein Sadist sein. Trotzdem bedankte er sich artig und fragte:
»Hast du zufällig Scotty gesehen?«
»Ja, der arme Junge. Er ist vor zwanzig Minuten weggefahren.«
»Gefahren?«
»Mit unserm Fahrrad. Du weißt, er kann es nehmen, wann er will. Wir brauchen es nicht mehr.«
Die Nachricht alarmierte ihn. »Hatte er etwas dabei? Hast du gesehen, wohin er gefahren ist?«
Sie blickte ihn entsetzt an. »Du meinst, er ist abgehauen? Nein – auf keinen Fall – nicht Scotty! Ich sah ihn aus dem Haus rennen. Er schnappte sich das Rad und brauste in Richtung Fabrik davon. Mach dir keine Sorgen. Der Junge kommt bald wieder.«
Cromwell schnurrte lauter als sonst, als Thomas das Eigelb verrührte, denn er spürte, dass sein menschlicher Butler nicht bei der Sache war. Die Nachbarin hatte gut reden. Natürlich machte er sich Sorgen um Scotty. Er machte sich nur noch Sorgen in letzter Zeit, die Sorge um den Arbeitsplatz noch nicht mitgezählt. Der Kater gab endlich Ruhe und verschlang seinen Eidotter.
Schweren Herzens rief Thomas seine Schwester an. Sie hätte sich sowieso nach seinem Befinden erkundigt, wie jeden Tag, aber er wollte die Initiative nicht ihr überlassen, wenn er schon um Hilfe bitten musste. Das Gespräch war noch nicht zu Ende, als er Scotty in irrem Tempo aufs Haus zu rasen sah. Er warf das Rad hin und stürmte in die Stube.
»Dad!«, keuchte er völlig aufgelöst.
Dabei hielt er ein blau-weiß gestreiftes Tuch hoch, bei dessen Anblick Thomas der Atem stockte. Wortlos legte er den Hörer auf und griff nach dem Tuch. Es war nass und verschmutzt, doch es gab keinen Zweifel: Felicity hatte diesen Schal am Dienstag getragen.
Scotty blickte ihn angstvoll an.
»Er hat sich im Gebüsch verfangen«, flüsterte er. »Dad, sie liegt irgendwo da draußen.«
»Red keinen Unsinn!«, wies er ihn zurecht, obwohl er genau dasselbe dachte.
Vor ihm stand nicht mehr der selbstbewusste Teenager, der den Rest der Welt mit schriller Musik und Unordnung provozierte. Scotty war wieder der kleine Junge, der den starken Arm des Vaters brauchte.
»Wo hast du ihn gefunden?«
»Ich bin hinter der Fabrik weiter gegen die Marshes gefahren, dort …«
»Die Sümpfe«, wiederholte Thomas nachdenklich.
Die Polizei hatte die Suche dort wegen der Überschwemmung abbrechen müssen. Er drückte das Tuch, als müsste er Felicity festhalten. Es fühlte sich weich und zart an wie sie.
»Wir müssen die Polizei rufen«, drängte Scotty.
»Ich weiß.«
Eine Stunde später stampfte er mit seinem Sohn an der Spitze des Suchtrupps durch das nasse Gras auf die Fundstelle zu. Die Männer schwärmten aus und begannen Gebüsch und Marschland zu durchkämmen. Sie konnten keine Hunde einsetzen. Das Wasser stand zu hoch. Scotty reichte es bisweilen an die Hüfte, doch er ließ sich durch nichts davon abbringen, bei der Suche nach seiner Mutter zu helfen. Thomas benötigte seine ganze Aufmerksamkeit, um den Jungen im Auge zu behalten. So bemerkte er erst, dass ein Constable die Hand hochhielt, als der Rest der Truppe auf ihn zu watete.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, wies ihn der Sergeant an, der den Einsatz leitete.
Er dachte nicht daran. Scotty erst recht nicht. Hals über Kopf stolperten sie zur Stelle, wo sich alle im Halbkreis versammelten.
»Felicity? Habt ihr sie gefunden?«, rief Thomas verzweifelt.
Der Sergeant versuchte, ihn aufzuhalten.
»Sie sollten sich das nicht ansehen«, sagte er hastig.
Die Beamten versuchten, Scotty zurückzuhalten, aber der Junge war schneller. Er drängte sich zwischen ihnen hindurch, und sein Vater tat es ihm gleich.
»Mom! Nein!«, brüllte der Junge.
Er sank auf die Knie, ergriff die Schuhe, deren Spitzen ihm entgegen ragten, versuchte, den Leichnam seiner Mutter aus dem Wasser zu ziehen. Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, ihn zurückzuhalten und zu beruhigen, während Thomas nur noch das wächserne Gesicht im schmutzigen Tümpel sah. Die toten Augen lasen direkt in seinen Gedanken.
»Felic …«
Seine Stimme versagte. Da lag die Frau, ohne die er sich kein Leben vorstellen konnte, vor ihm im Dreck. Als hätte sie sich nur kurz ausgestreckt und wäre vom Regen überrascht worden – und vom Messerstich in ihr Herz. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, konnte er den Blick nicht von ihr wenden, als müsste sie jeden Moment erwachen. Er nahm nichts anderes wahr, als diesen geschundenen Körper, den seine Felicity für immer verlassen hatte. Reglos stand er da und reagierte auf nichts, was um ihn herum vorging, doch plötzlich brach es aus ihm heraus. Er schloss seinen Jungen in die Arme, drückte ihn fest an sich, und beide begannen, hemmungslos zu schluchzen.
Allein in den Trümmern seiner Träume, nahm er die Befehle des Sergeants, die aufgeregten Funksprüche, die Blaumänner der Spurensicherung, das Eintreffen des Gerichtsmediziners nur am Rande wahr. Willenlos ließ er sich mit dem Jungen wegführen. Er kehrte erst im Rettungswagen in die Gegenwart zurück, wo eine Sanitäterin unablässig in beruhigendem Ton auf ihn einredete.
»Verstehen Sie mich? Wir bringen Sie und den Jungen nach Hause. Ich habe Ihnen etwas zur Beruhigung gegeben.«
»Beruhigung«, lallte er verständnislos.
»Sie stehen unter Schock. Es ist wichtig, dass Sie sich jetzt ausruhen. Die Nachbarin wird sich um Sie beide kümmern. Können wir jemanden aus Ihrer Familie anrufen, um Sie zu unterstützen?«
Familie