Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg
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Das Zebra hielt kurz inne, um ihren Gemütszustand einzuschätzen. Nicht allzu beunruhigt hielt sie ihr die Schale mit den Schokokeksen hin. Sie lehnte dankend ab. Die Kollegin widmete sich wieder der bedauernswerten Tastatur. Sie selbst begann widerwillig, den Aachener Bericht zu entschärfen. Manchmal wünschte sie sich, beim großen Revolverblatt angeheuert zu haben. Die publizierten zwar häufig Müll, hatten aber wesentlich weniger Hemmungen, die Dinge beim Namen zu nennen.
Schlag elf Uhr sandte sie die Mail mit der neuen Version in die Sauna. Martin Brandt zeigte keine Reaktion, was bedeutete, dass er einverstanden war. Sie packte ihren Laptop in die Tasche und verließ die Redaktion. Die Fahrt nach Düsseldorf dauerte zwar keine Stunde, aber sie brauchte frische Luft vor der PK, und die Nudelsuppe im ›Takumi‹ war auch nicht zu verachten.
Drei Stunden später wusste sie, dass sie sich die Zeit für die Pressekonferenz im LKA Düsseldorf hätte sparen können. Die Ermittler waren kaum einen Schritt vorangekommen. Ein Zusammenhang der Morde mit den Geschworenen wurde zwar vom Staatsanwalt nicht ausdrücklich verneint aber eben auch nicht zugegeben. Die Fragen und Antworten konzentrierten sich im Wesentlichen auf den Polizisten, den Zeugen zur Tatzeit aus dem Haus des Antiquars Rosenblatt hatten kommen sehen. Ihr Lieblingskommissar Fischer deutete an, es handle sich möglicherweise um den Täter, der sich als falscher Polizist Zugang zu Scholzes Wohnung verschafft hatte. Sie konnte nicht anders, als das Wort zu ergreifen.
»Das bedeutet, man kann keinem uniformierten Polizisten mehr trauen, bis der Täter gefasst ist. Wie wollen Sie die Bevölkerung so noch schützen?«
Fischers Blicke töteten, aber er blieb die Antwort schuldig, ebenso der Staatsanwalt. Die Pressekonferenz war zu Ende.
Potsdam
»Dr. Roberts?«
Der Mann mit Halbglatze und Schweinsäuglein begrüßte sie mit jovialem Lächeln und kräftigem Händedruck. Chris hatte sich den Makler ganz anders vorgestellt. Die Stimme am Telefon passte zu einem Typen wie George Clooney aber nicht zu ihrem Gegenüber. Was kümmert dich seine Erscheinung? Er war gekommen, um sich das nun leer stehende Elternhaus anzusehen, hatte zudem einen fairen Preis versprochen. Sie wollte das Geschäft so bald wie möglich hinter sich bringen. Zu viele Erinnerungen verbanden sie mit diesem kleinen Haus unweit der Glienicker Brücke. Ging der Verkauf nicht rasch über die Bühne, würde er nie stattfinden, fürchtete sie. Das durfte nicht geschehen, denn weder sie noch ihr Mann Jamie waren in der Lage, sich weiter um das Haus zu kümmern. Jetzt nach dem Tod ihrer Mutter würde es verfallen. Auch das durfte nicht geschehen.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen können«, sagte der Makler, »sicher nicht einfach in Ihrem Job.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. Als Hauptkommissarin beim BKA war sie selbst in der spärlichen Freizeit im Dienst und zwar mit einem Monatsgehalt, das der Makler in einer Woche verdiente, schätzte sie. Augen auf bei der Berufswahl. Trotzdem konnte sie sich keinen besseren Job vorstellen.
»Wollen wir dann mal?«, fragte der Makler, da sie reglos vor dem Haus stehen geblieben war, den Blick nach innen gerichtet.
Sie entschuldigte sich und schloss auf. Es war ein Haus für Nostalgiker mit kleinen Zimmern und winzigen Fenstern, durch die nur wenig Licht fiel. Ihr Musikzimmer in Dahlem war größer als die Grundfläche des Elternhauses. Dennoch spürte sie, wie der Trennungsschmerz mit jeder Minute stärker wurde. Kaum im Haus, setzte der körperliche Schmerz ein.
»Sehen Sie sich ruhig um. Ich muss mich kurz entschuldigen.«
Eilig zog sie sich auf die Toilette zurück. Sie brauchte nicht hinzusehen. Die Symptome waren eindeutig. Es klappte wieder nicht. Mit Tränen in den Augen spülte sie das Blut hinunter, zweimal.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Makler besorgt, als sie zurückkehrte.
Er musste ihre geröteten Augen bemerkt haben. Sie nickte, versuchte gar nicht erst zu lächeln.
»Konnten Sie sich ein Bild machen?«
»In der Tat, und ich muss Ihnen ein Kompliment aussprechen – und ihren Eltern selig. Das alte Haus befindet sich in einem tadellosen Zustand.«
»Sie werden es nicht abreißen?«
Er verneinte entschieden. »Ich denke, es gibt genug Interessenten, die dieses Objekt zu ihrem neuen Heim machen wollen.«
Eine junge, glückliche Familie mit höchstens zwei Kindern, mehr fanden nicht Platz. Es war eine schöne Vorstellung, die sie ein wenig über die erneute Enttäuschung hinweg tröstete. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb sie in all den Jahren zuvor die Pille genommen hatte, wenn es doch nie funkte. Der Makler streckte ihr die Hand entgegen, um sich zu verabschieden.
»Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Dr. Roberts. Dann verbleiben wir also wie besprochen.«
Damit eilte er zu seinem Lexus. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas besprochen zu haben. Nicht wichtig, dachte sie. Wenn sie sich beeilte, würde sie Jamie noch zu Hause antreffen, bevor er wieder zu einer Talkshow oder Podiumsdiskussion in irgendeiner Uni verreiste. Sie hatte den Überblick verloren. Seit seiner bahnbrechenden Arbeit über die Perfektionierung der Genschere CRISPR war er der meistgesuchte Mediziner weit und breit und dauernd auf Achse. Wenigstens lag es nun nicht mehr an ihr, sich für die häufige Abwesenheit entschuldigen zu müssen.
Sie traf ein leeres Haus an in Dahlem. Jamies Zettel lag auf dem Küchentisch, der in den Anfängen um diese Zeit nach Feierabend stets festlich gedeckt gewesen war. Roland Koch Institut, lautete die Notiz, love you, Jamie. Die Einladungskarte für die Veranstaltung im RKI Berlin klebte daran. Sie warf den Zettel achtlos wieder hin und blickte sich in der leeren Küche um. Diese Küche, die locker für ein kleines Gourmet-Restaurant reichte, war sein Königreich gewesen. Sie hatte sich jeweils nur hinsetzen und genießen können. Jetzt wirkte sie leer wie ihr Magen. Nichts außer einer Schale mit halb totem Obst stand auf dem Tisch. Seine Musik spielte nicht mehr hier. Sie ahnte jetzt, wie er sich früher bei geregelter Arbeitszeit gefühlt haben musste, als er versuchte, sich an ihr unberechenbares Leben als Kriminalkommissarin anzupassen.
Sie nahm einen Apfel aus der Schale, der sich noch einigermaßen fest anfühlte, und stieg die Treppe hinauf. Im Musikzimmer, welches das ganze Dachgeschoss einnahm, holte sie ihr Saxofon aus dem Instrumentenkoffer und legte sich auf die Couch. Lange streichelte sie das goldene ›Senzo‹ in der Hoffnung, die Lust zu spielen würde zurückkehren. Schließlich nickte sie ein.
Das Handy weckte sie. Kollege Haases Stimme klang ruhig und entspannt wie immer, als verbrächte er den Urlaub im Büro, nicht das ganze Leben.
»Ich fürchte, Sie müssen herkommen, Chef«, meldete er. »Es brennt.«
»Ist das nicht eher ein Fall für die Feuerwehr?«, versuchte sie zu scherzen.
»Staatssekretär Panzer aus dem Innenministerium wird in den nächsten Minuten erwartet«, erklärte er.
»Und Staatsanwältin Winter hyperventiliert«, warf sie ein. »Kann ich mir vorstellen. Bin schon unterwegs.«
Musik