Harzhunde. Roland Lange

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Harzhunde - Roland Lange

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auf einmal hergekommen sein?“

      „Das wüsste ich auch gern ...“ Maria lehnte sich zurück, starrte nachdenklich auf ihre Bierflasche. „Womöglich ausgerissen. Und jetzt streift er wildernd durch die Gegend. Was dann vielleicht auch die Schafrisse erklärt.“ Als sie das sagte, dachte sie gleichzeitig an eine andere Sache, auf die sie sich bisher keinen Reim hatte machen können. Sie legte Daniel ihre Hand auf den Oberschenkel. „Weißt du was? Ich werde mich mal ein bisschen umhören. Sollte ich was in Erfahrung bringen, gebe ich dir Bescheid. Einverstanden?“

      Daniel nickte. Zufrieden war er nicht mit der Antwort. Andererseits, was hatte er denn erwartet? Bei Maria Hübner das riesenhafte Vieh zu finden, das ihn angegriffen hatte? Mit seinem Blut an den Reißzähnen? Als eindeutigen Beweis dafür, dass er nicht Opfer seiner ausufernden Fantasie geworden war? Es konnte doch sein, dass in seinem Revier wildernde Hunde unterwegs waren. Er erinnerte sich wieder an die Schatten, die er wahrgenommen hatte, oben auf dem Hochsitz. Er hatte sie als Einbildung abgetan, seinem Zustand zugeschrieben: völlig übermüdet, kurz vor dem Einschlafen. Dazu die ganzen Geräusche – irritierend, unheimlich, furchteinflößend. Etwa doch keine Hirngespinste? Er wusste selbst nicht mehr, was er glauben sollte. Am liebsten hätte er sich mit aller Wucht gegen den Kopf geschlagen, um das Durcheinander unter seiner Schädeldecke wieder zurechtzurücken.

      „Kennst du den Ponytale Saloon?“, unterbrach Maria seine Grübelei.

      „Ponytale Saloon? Ja, gehört habe ich den Namen schon mal. Bin mir aber nicht sicher. Warum fragst du?“

      Sie zuckte mit der Schulter. „Ach, war nur so ’ne spontane Idee. Ist ein klasse Laden, total urig. Und gar nicht weit von hier, bei Neustadt. Sieht aus wie im Wilden Westen. Stilecht, mit allem, was dazugehört. Katja Ortlepp, die Eigentümerin, ist der absolute Western-Fan. Für ihre Gäste heißt sie Jenny. Ich kenne sie schon ein paar Jahre. Sie ist ’ne Freundin. In ihrem Laden könnten wir uns ja mal treffen und was zusammen trinken, wenn du Lust hast. Das Essen ist übrigens auch spitze. Und du bringst deine Julia mit. Dann lerne ich sie mal kennen.“

      Daniel zuckte mit den Schultern. „Hm ... Warum nicht? Hört sich verlockend an. Ich werde Julia fragen.“ Er blickte auf seine Armbanduhr und erhob sich. „Tja, ich muss wieder los. Wartet noch einiges an Arbeit auf mich.“

      Maria nickte und stand ebenfalls auf. „Verstehe. War auf jeden Fall schön, dass du vorbeigeschaut hast.“ Sie begleitete Daniel zurück zu seinem Wagen. „Mach’s gut, mein Lieber, und grüß deine Frau unbekannterweise“, sagte sie und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Ich melde mich bei dir wegen dieser Hundesache. Versprochen.“

      Als Daniel Kranz den Hof verließ, schaute Maria Hübner dem davonfahrenden Wagen einige Augenblicke hinterher. Dann wandte sie sich um, ging langsam zurück in ihre Werkstatt. Bei der Arbeit an ihrer schmiedeeisernen Skulptur konnte sie gut nachdenken. Und nachdenken musste sie jetzt. Über die Geschichte, die Daniel ihr erzählt hatte, über die gerissenen Schafe und noch über etwas anderes: Das Fundstück oben aus dem Hochwald, auf das sie vor wenigen Tagen gestoßen war und dem sie keine Bedeutung beigemessen hatte, erschien ihr auf einmal in einem neuen Licht.

      6. Kapitel

      Katja hatte längst das Haus verlassen. Blume fand in ihrer Küche einen reich gedeckten Frühstückstisch vor. Wie so oft morgens. Im Gegensatz zu ihm war sie Frühaufsteherin, und heute kam hinzu, dass sie ein paar Lieferanten aufsuchen musste, um Verträge neu zu verhandeln. Das war eine der Aufgaben, die sie mit Widerwillen erledigte und sich deshalb möglichst schnell vom Hals schaffte. Waren die neuen Abschlüsse in trockenen Tüchern, konnte sie in aller Ruhe zurückfahren, rechtzeitig den Saloon öffnen und sich frei von anderem Ballast ihren Gästen widmen. Sie hasste es, unliebsame Arbeiten auf die lange Bank zu schieben und sich in Gedanken damit herumzuquälen.

      Blume schlurfte schlafmützig zum Küchentisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er öffnete die Thermoskanne, die Katja ihm griffbereit neben die Tasse gestellt hatte. Der kräftige Duft des heißen Kaffees zog ihm in die Nase und weckte seine Lebensgeister. Er goss sich ein, trank die erste Tasse schwarz. Ohne Milch, ohne Zucker, ohne etwas dazu zu essen. Das brachte seinen Kreislauf in Schwung. Im Anschluss an den Wachmacher widmete er sich dann den Toastscheiben und den diversen Gaumenfreuden auf dem Tisch.

      Kauend startete er kurz darauf sein Tablet. Vor einem halben Jahr hatte er sich den taschenbuchgroßen, flachen Touchscreen-PC angeschafft und schnell Gefallen daran gefunden. Das Gerät stand einem ausgewachsenen Computer in nichts nach – im Gegenteil, so ein Tablet ließ sich wesentlich flexibler einsetzen, leicht überall mit hinnehmen und war dazu recht bequem zu handhaben. Sein Smartphone mit der mickrigen Bildschirmtastatur trieb ihn dagegen regelmäßig in den Wahnsinn, wenn er es mit seinen breiten Fingern bediente.

      Blume nutzte die Flexibilität des Tablets nur selten. Eigentlich eine Fehlinvestition. Die meiste Zeit stand es auf dem kleinen Schreibtisch oben in seinem Wohnzimmer. Dafür brachte er es oft morgens mit an den Frühstückstisch, um sich nebenbei einen schnellen Überblick über das allgemeine Nachrichtengeschehen zu verschaffen. Die Tageszeitung lag zwar weiterhin in der Küche bereit, blieb aber von ihm unberührt, seit er aus einer Laune heraus die digitale Ausgabe abonniert hatte. Katja war nicht sonderlich begeistert. Dieser „Beziehungskiller“, wie sie den kleinen PC abfällig nannte, habe dazu geführt, dass sie sich beim gemeinsamen Frühstück kaum noch miteinander unterhielten. Manchmal fragte Blume sich, ob da ein bisschen Eifersucht mitschwang, wenn sie sich aufregte. Dabei war nicht das Tablet schuld an ihrer spärlichen Kommunikation. Blume war ein Morgenmuffel, der die Zähne kaum auseinanderbekam, kurz nachdem er aufgestanden war. Und das wusste Katja. Vielleicht fehlte ihr der regelmäßige Streit um die Tageszeitung, in die jeder von ihnen als Erster einen Blick hatte werfen wollen.

      Nachdem Blume die aktuellen Ereignisse aus aller Welt überflogen und unter gelegentlichem Kopfschütteln festgestellt hatte, dass die globale Zerstörungslust ungehindert neue Blüten trieb, wechselte er zu den regionalen Nachrichten. Eine Vermisstenanzeige zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er ließ die Kaffeetasse, die er zum Mund führte, wieder sinken und starrte auf das zur Anzeige gehörende Foto und den Namen: Dr. Karsten Dreyling, Psychotherapeut. Seit einer Woche vermisst! Der Mann, zu dem er noch vor Kurzem eine Handvoll Informationen gesammelt und den er zuletzt mit Sandra Kullmann in ihrem Liebesnest fotografiert hatte.

      Dreyling wurde vermisst? Wieso? Und von wem? Seinen Recherchen zufolge war der Mann unverheiratet, seine Eltern lebten im Emsland, und der Kontakt zu seinem Bruder war eher sporadisch. Sandra Kullmann hatte ihren Gatten in ihre Liebesbeziehung und ihre Pläne eingeweiht. Der wusste, dass sie mit dem Geliebten das Weite gesucht hatte. Und Dreyling? War der etwa klammheimlich von der Bildfläche verschwunden? Hatte sich aus dem Staub gemacht, ohne einem Menschen seine Absichten mitzuteilen oder wenigstens anzudeuten? Er gehörte einer Praxisgemeinschaft an. Jemand musste doch irgendetwas gewusst haben! Und von wem stammte die Vermisstenanzeige? Wer hatte sie aufgegeben? Die Polizei war es nicht. Das alles schien ausgesprochen merkwürdig.

      Blume leerte seine Tasse und schenkte sich nach. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und zunächst in Dreylings Praxis nachzufragen. Sicher konnte man ihm dort Auskunft geben. Gut, es brauchte ihn nicht zu interessieren, was mit dem Therapeuten geschehen war. Aber diese Vermisstenanzeige stand in Zusammenhang mit seinem Überwachungsauftrag. Er hatte seine Arbeit getan, der Auftrag war erledigt, das Ergebnis war eindeutig gewesen. Ebenso eindeutig wie die Absicht der beiden Liebenden, sich aus ihrem alten Leben zu verabschieden. Kullmann hatte keinen Zweifel daran gelassen. Und jetzt diese Anzeige! Sie warf Fragen auf. Darauf wollte er Antworten haben. Auf eine komische Art fühlte er sich verantwortlich.

      Er beendete sein Frühstück, räumte den Tisch ab und stellte das schmutzige Geschirr in den Spüler. Die erste Zigarette des Tages würde er sich draußen anstecken, auf der Bank vor der Haustür. Blume hatte es trotz einiger Versuche nicht geschafft,

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