Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

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Blindlings ins Glück - Ria Hellichten

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und müsste ihn nach dem Interview nie wiedersehen.

      Entschlossen drückte Tabea erneut auf den Klingelknopf, diesmal etwas länger. Ein paar Sekunden verstrichen und nichts geschah, dafür zwitscherten die Vögel in den Kastanien und der Sommerwind rauschte leise durch ihr kurzes Haar. Tabea wollte sich gerade wieder umdrehen, als eine unfreundliche, verschlafene Stimme aus dem Lautsprecher dröhnte und die idyllische Geräuschkulisse ruinierte. „Wer ist da?“

      Ihre Gedanken überschlugen sich hektisch. Na toll. Jetzt stand sie hier und wusste nicht einmal, was sie sagen sollte. Auf keinen Fall durfte sie sich ihre Unsicherheit anmerken lassen, sonst hielt er sie noch für eine lästige Zeitschriftenvertreterin und sie würde nie eine Gelegenheit bekommen, in Ruhe zu erklären, was sie wollte. „Hallo, Bach ist mein Name“, begann sie. „Ähm, Ihre Assistentin schickt mich.“ Das war nur halb gelogen. „Es geht um …“ Aber bevor sie sich erklären konnte, ertönte bereits der Summer. „Ganz oben“, sagte die Stimme knapp.

      Mit klopfendem Herzen drückte Tabea die Haustür auf und betrat die Villa, die zu einem schicken Mehrfamilienhaus ausgebaut worden war. Eine gewendelte Treppe mit prunkvollem Geländer führte in die oberen Etagen und daneben gab es sogar einen Aufzug. Sie stieg die Treppenstufen aus lackiertem Edelholz hinauf, bis sie im obersten Stock angekommen war, und bewunderte dabei die hübsch restaurierten Buntglasfenster.

      Als sie sich der Wohnungstür näherte, wurde die Klinke heruntergedrückt, aber ehe sie dem großen Mann, der ihr geöffnet hatte, ins Gesicht sehen konnte, hatte er sich schon umgedreht und eilte davon, wobei er sich mit einer Hand an der Wand abstützte.

      Tabea blieb nichts anderes übrig, als seine Rückseite zu betrachten. Sie war überzeugt gewesen, dass jemand wie Johannes Baumann auch zu Hause nur Anzüge trug. Dass er vielleicht sogar im Anzug schlief, wie Barney Stinson. Aber sie hatte sich geirrt: Dieser Mann trug nichts weiter als ein weißes T-Shirt und Boxershorts – zugegeben, er hatte wohl auch die Figur dafür. Allem Anschein nach hatte sie ihn geweckt. Tabea spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Natürlich! Er war schließlich krank und verbrachte wahrscheinlich den ganzen Tag im Bett. Vielleicht hätte sie sich doch anmelden sollen.

      Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich und trat ein. Gleich darauf schmiegte sich etwas Weiches und Warmes um ihre nackten Knöchel. Eine Katze! Sie beugte sich herunter und streichelte den gescheckten Stubentiger. Sollte Baumann etwa ein Tierfreund sein? Ausgeschlossen. Wer fütterte denn die arme Katze bei einem 12-Stunden-Tag im Büro? Obwohl, wahrscheinlich übernahm das auch Barbara. Das und noch andere Dinge …

      „Jetzt kommen Sie schon rein“, rief Herr Baumann vom Wohnzimmer aus. Tabea spähte durch den Flur und sah, dass er es sich dort auf einem dunklen Ledersofa bequem gemacht hatte und mit gelangweiltem Blick auf die gegenüberliegende Wand starrte.

      „Es wird auch höchste Zeit, dass Sie kommen“, rief er. „Meine Haushaltshilfe hat erst nächste Woche wieder Zeit, aber das Katzenklo muss dringend gereinigt werden und mir geht langsam das Futter aus.“

      Für Sie oder für die Katze?, schoss es Tabea durch den Kopf, aber sie biss sich rechtzeitig auf die Zunge und schluckte die unangebrachte Frage herunter. Das war eindeutig ein Missverständnis, wie sonst sollte er darauf kommen, dass sie zum Putzen hier war? Und auch wenn sie während ihres Praktikums nie mehr als ein paar Worte gewechselt hatten, müsste Baumann sie doch erkennen, oder nicht?

      „Sie wissen, wer ich bin?“, fragte sie und setzte sich in einiger Entfernung zu dem Sofa, auf dem sich Herr Baumann ausgestreckt hatte, auf einen Klubsessel. Der Kater lief an ihr vorbei, sprang ihrem Gegenüber auf den Bauch und ließ sich kraulen.

      Er sah sie nicht einmal an. „Ja, natürlich. Babsi hat mir gesagt, dass ich wohl nicht drum herumkommen werde, also können wir uns den Small Talk auch sparen. Und machen Sie Ihren Job gut, sonst suche ich mir eine andere Assistentin … oder Sozialarbeiterin oder wie auch immer Sie sich nennen.“

      Tabea spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Er hielt sie für seine Sozialarbeiterin! Wie kam er bloß auf die Idee? Und weshalb sollte Johannes Baumann eine Sozialarbeiterin brauchen? „Also, ich wollte eigentlich …“, setzte sie an, verstummte aber gleich darauf. Eine verlockende Idee begann sich in ihrem Geist zu formen. War das vielleicht die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte? Ihre Chance, ihn persönlich kennenzulernen und herauszufinden, was unter der rauen Schale steckte, so wie Kohlmeis es ihr aufgetragen hatte? Tabea faltete die Hände und räusperte sich. „Ich wollte Ihnen erst mal ein paar Fragen stellen. Das ist wichtig für unsere … Zusammenarbeit, wie Sie sicher verstehen.“

      „Ach ja?“ Er ließ von seinem Kater ab und sah auf. In dem Moment, als er ihr ins Gesicht sah, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Seine Augen wanderten unruhig hin und her, als suchten sie einen Fixpunkt. Er seufzte, dann sah er wieder zu Boden, sodass seine Lider beinahe geschlossen waren. „Meinetwegen. Fragen Sie, wenn es sein muss.“

      Tabea strich den Stoff ihrer hoffnungslos zerknitterten Hose glatt. „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Sie sind krank? Wollen Sie mir vielleicht sagen, was Ihnen genau fehlt?“

      Baumann zuckte mit den Schultern. „Ich bin blind. Ich dachte eigentlich, das wüssten Sie. Es kam plötzlich.“ Er schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: „Eine Erbkrankheit. Nicht reversibel.“

      Tabea erstarrte. Blind? Wie konnte das sein? Sollte Johannes Baumann tatsächlich in den wenigen Monaten, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, erblindet sein? Hatte er vielleicht schon immer Probleme mit seinen Augen gehabt, aber sie war während ihres Praktikums so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie das nicht … nein, sicher wäre ihr etwas aufgefallen, oder nicht?

      Sie hatte Mühe, die aufkeimenden Schuldgefühle zu unterdrücken. Die Vorstellung war schrecklich. Seine abweisende Art erschien ihr plötzlich in einem ganz neuen Licht. Tabea schluckte und sammelte sich. „Sind Sie vollständig erblindet?“

      Er schnaubte. „Was glauben Sie denn? Wollen wir ein Spielchen spielen? Mal sehen, wie viele Finger Sie zeigen? Ja, verdammt, das bin ich! Blind wie ein Maulwurf.“

      „Eigentlich ist es nur ein Ammenmärchen, dass Maulwürfe –“ Tabea schüttelte den Kopf und holte tief Luft. Warum konnte sie bloß nie die Klappe halten?

      Baumann hatte trotzig den Kopf erhoben und Tabea betrachtete sein Gesicht genauer. Zu ihrer Erleichterung zuckten bei ihrer vorlauten Äußerung über Maulwürfe tatsächlich seine Lippen nach oben, sodass man beinahe glauben könnte, er würde lächeln – wenn auch nicht so selbstgefällig wie früher. Auch sonst hatte dieser Mann nicht mehr viel mit dem geleckten Johannes Baumann im maßgeschneiderten Anzug gemeinsam. Die kurzen, hellbraunen Haare, die er im letzten Herbst immer akkurat frisiert getragen hatte, waren zerzaust, aber nicht auf die modische Art. Dabei hatte er damals auf sie gewirkt wie ein Mann, der ein bisschen zu lange vor dem Spiegel stand: Der Anzug saß stets perfekt, die Hemden hatten edle Kontrastnähte oder eingestickte Initialen. Sein gebräuntes Gesicht war penibel glatt rasiert gewesen und die blauen Augen stachen unter den markanten Augenbrauen hervor. Überhaupt fand sie damals, dass seine Gesichtszüge ein bisschen zu hübsch für einen Mann waren. Und dass sein Blick mit den immer etwas skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen wahrscheinlich etliche Frauenherzen zum Schmelzen gebracht hätte, wenn Baumann nicht so arrogant gewesen wäre – eine Eigenschaft, die zumindest Tabea bei Männern überaus abstoßend fand, wie attraktiv sie auch sein mochten.

      Wenn sie sich jetzt daran zurückerinnerte, fiel ihr auf, wie genau sie ihn damals beobachtet hatte. Sicher, deshalb hatte sie ja das Praktikum gemacht: um zu studieren, wie er mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umging. Trotzdem verunsicherte sie diese Erkenntnis. Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Der Johannes

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