Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

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Blindlings ins Glück - Ria Hellichten

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      „Ich fahre jetzt nach Hause“, erwiderte Johnny kühl. Es kostete ihn alle Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren.

      Auch Violetta klang gereizt. „Junge! Wir müssen über deine Zukunft sprechen. Wie stellst du dir das überhaupt vor?“

      „Einen Scheiß muss ich!“ Verzweifelt tastete sich Johnny an dem schmalen Bartresen entlang, um zur Wohnungstür zu gelangen.

      „Rede nicht so mit mir.“ Violettas Stimme zitterte. Er hörte, dass sie aufstand, um ihm zu folgen. Ehe er an der Tür war, packten ihn ihre Finger am Arm. Sie zog ihn zu sich und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Der Zigarettenrauch stieg heiß neben seinem Gesicht auf und ihr Schluchzen dröhnte in seinen Ohren.

      „Entschuldige“, presste er leise hervor.

      „Bleib doch erst mal hier. Du kannst im Kinderzimmer schlafen. Musst du noch deine Sachen holen? Ich rufe dir ein Taxi, aber verabschiede dich vernünftig von deiner Mutter.“

      Zögerlich legte Johnny eine Hand auf ihre Schulter. Die Vorstellung, wieder bei seiner Mutter einzuziehen, lähmte seine Gedanken viel mehr als der Schock, unter dem er noch immer stand. Aber er wusste, dass sie recht hatte: Es war, zumindest im Moment, das Beste. „Schon gut“, sagte er. „Bis später, Mutter.“

      Mit diesen Worten löste er sich von ihr und tastete nach dem Türgriff. Das Metall lag angenehm kühl in seiner Handfläche. Die Wohnungstür fiel lautstark ins Schloss.

      Johnny tastete sich eilig ein paar Meter an der Wand entlang, dann blieb er stehen. Endlich frische Luft. So frisch, wie die Luft im fünften Stock eines Achtzigerjahre-­Plattenbaus in Haslach-Weingarten eben sein konnte. Und trotzdem war das jetzt alles, was ihm noch blieb. Seine Mutter hatte ausgesprochen, was er insgeheim schon seit seinem ersten Tag im Krankenhaus wusste – dass sein altes Leben vorbei war. Aber erst jetzt spürte er, wie ihm diese Gewissheit unerträglich langsam und beständig die Kehle zuschnürte.

      Die folgenden Tage waren die Hölle: mit dem Kater und seiner Mutter eingepfercht in der viel zu kleinen Wohnung, mitten im Hochsommer. Er teilte sich das schmale Jugendbett mit dem Kater, umgeben von stummen Zeugen seiner Kindheit – Actionfiguren der Teenage Mutant Hero Turtles und Kassetten für den Walkman. Das Bett verließ er nur, um auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen, obwohl er Letzteres meist auch im Bett tat. Und natürlich, um notgedrungen den Termin bei seiner charmanten Hausärztin wahrzunehmen. Jetzt schien sie allerdings nicht mehr so charmant zu sein. Sie überprüfte seine Blutwerte, die wohl nicht allzu schlecht waren, und versuchte, ihn von allerlei Therapien und Maßnahmen zu überzeugen. Aber Johnny wollte davon nichts wissen und sagte nicht viel außer: Jaja, meine Mutter kümmert sich darum.

      Anfangs las Violetta ihm ständig aus medizinischen Ratgebern oder von irgendwelchen Wunderheilern vor. Sie ging allmählich dazu über, ihn wieder zu umsorgen wie ein Baby, indem sie sein Essen kochte, seine Wäsche wusch, ihm jeden Morgen den Bart trimmte und ihm die Hemden zuknöpfte. So, als wäre er dazu nicht selbst in der Lage. Es war schrecklich, aber Johnny fehlte die Kraft zum Widersprechen. Ab und zu stellte er sich sogar vor, wie es gewesen wäre, wenn er einfach noch ein paar Schlucke mehr von dem Schnaps getrunken hätte. Dann wäre ihm dieses Elend erspart geblieben.

      Nur in den wenigen Stunden, wenn Violetta im Callcenter war, stand er manchmal auf und versuchte, sich allein etwas zu essen zu machen oder ihre Sammlung kleiner Parfumflakons im Setzkasten durcheinanderzubringen, um sie zu ärgern. Mehr als einmal verfluchte er sich dafür, dass er sich hatte überreden lassen, bei ihr zu wohnen, denn jetzt musste er nicht nur mit einer neuen Situation, sondern auch mit einer unbekannten Umgebung zurechtkommen. Er kannte sein eigenes Appartement in- und auswendig, aber die Wohnung seiner Mutter, in der alle Möbelstücke mit einem hartnäckigen Nikotindunst überzogen waren und sentimentale Erinnerungen in jedem Zimmer lauerten, hatte er in den letzten Jahrzehnten gemieden, so gut es ging.

      Einmal verließ Johnny die Wohnung sogar. Er arbeitete sich zum Aufzug vor und schaffte es nach einer kleinen Irrfahrt durch die diversen Stockwerke des Gebäudes, im Erdgeschoss durch das Foyer zu gehen. Vor dem Haus war eine Wiese und die Sommerluft umfing ihn warm, duftend und verlockend. Das war sein erster Spaziergang ohne Begleitung seit Wochen. Am liebsten hätte er den Kater mitgenommen, der eigentlich ein Freigänger war und vom Balkon seines Appartements aus die Wiehre erkundete. Aber das wäre zu riskant gewesen.

      Mit etwas Mühe fand Johnny auch den Weg zurück ins Gebäude und dann in den achten Stock. Allerdings hatte er aus Gewohnheit die Wohnungstür hinter sich zugezogen und saß an diesem Abend fast zwei Stunden auf dem Flur, bis seine Mutter wieder nach Hause kam und ihm unter Vorwürfen die Tür aufschloss.

      Das waren kleine Siege, aber sie bedeuteten ihm alles. Als er es eines Abends geschafft hatte, sich eine Tiefkühllasagne aufzutauen, ohne dass sie im Backofen verkohlt war – am Tag zuvor hatte er bei dem Versuch, ohne seine Mutter zu essen, fast die Wohnung in Brand gesetzt –, überkam ihn ein seltsames Gefühl: Johnny war stolz. Stolz darauf, es allein geschafft zu haben. Er fand sogar den Flaschenöffner und machte sich entgegen allen Warnungen ein Bier auf.

      In diesem Moment wusste er, dass er seine Freiheit wiederhaben wollte. Es gab da draußen noch ein Leben, das ohne ihn weiterging, und er wollte es nicht verpassen. Deshalb musste er hier weg und zurück in sein eigenes Reich. Kurzerhand packte Johnny seine Sachen zusammen, zumindest die, die er auf Anhieb finden konnte, schickte seiner Mutter eine knappe Sprachnachricht und bestellte sich und dem Kater ein Taxi.

      In seinem Appartement war es angenehm kühl. Ein schwacher, beißender Geruch nach Putzmittel lag noch in der Luft. Jeden Donnerstag kam seine Haushaltshilfe, Milena Kowalski, und auch in den letzten Wochen hatte sie in seiner Wohnung nach dem Rechten gesehen und ab und zu Staub gewischt. Johnny zog die Wohnungstür hinter sich zu, stellte die Transportbox des Katers auf dem Parkett ab und öffnete den Reißverschluss.

      Er holte tief Luft und versuchte, unter dem künstlichen Zitronenduft noch etwas anderes, Vertrautes auszumachen, das ihm zeigen würde, dass er zu Hause war. Aber die beruhigende Gewissheit blieb aus. Bis auf das sanfte Tapsen der Katzenpfoten auf dem Holz lag das Appartement vollkommen still da. Johnny streckte die Arme schräg nach vorne aus und tastete sich zum Wohnzimmer vor. Er wollte sich gerade auf sein Sofa fallen lassen, als das schrille Klingeln des Telefons den Raum erfüllte.

      Johnny zuckte zusammen und fühlte, wie sein Puls einen unangenehmen Sprung machte. Wahrscheinlich war das seine Mutter, die wissen wollte, ob er tatsächlich heil angekommen war. Er versuchte, das Geräusch zu ignorieren, aber eigentlich hatte er das Bedürfnis, mit einem anderen Menschen zu sprechen – um sich davon zu überzeugen, dass er trotz der Zeit, die er eingepfercht in der Plattenbauwohnung verbracht hatte, immer noch bei Verstand war.

      Unentschlossen zog Johnny das iPhone aus der Hosentasche. Er könnte seinen Kumpel Dirk anrufen, aber ihm war nicht danach, zu erklären, was in den letzten Wochen passiert war. Nein, er sehnte sich einfach nach einer belanglosen Unterhaltung. Johnny zögerte kurz, dann sagte er: „Siri, ruf Babsi an.“

      Es klingelte ganze zehn Mal, ehe sie ranging. „Babsi! Wieso dauert das denn so lange? Wie läuft es in der Firma und … wie geht es Ihnen sonst so?“

      „Sind Sie noch im Krankenhaus? Was sagen die Ärzte?“, fragte sie zurück.

      „Nein, ich bin zu Hause. Den Rest erzähle ich Ihnen lieber persönlich. Kommen Sie vorbei? Ich bestelle uns auch eine Pizza.“ Er musste zwar dringend wieder auf seine Ernährung achten, vor allem jetzt, wo er keine Möglichkeit mehr hatte, joggen zu gehen, aber das konnte auch bis morgen warten.

      „Ich hatte für heute Abend schon andere Pläne.“

      „Sagen

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