Blindlings ins Glück. Ria Hellichten
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Читать онлайн книгу Blindlings ins Glück - Ria Hellichten страница 6
Am nächsten Morgen fragte eine Schwester wieder, ob er jemanden anrufen wolle. Johnny rieb sich stöhnend die Schläfen, ohne die Augen zu öffnen. „In meinem Portemonnaie – ich glaube, es liegt auf dem Nachttisch – sind Visitenkarten. Können Sie bitte meinen Arbeitgeber, Sanacur, benachrichtigen und ihm mitteilen, wie lange ich hier noch bleiben muss?“
„Natürlich.“ Er hörte, wie die Schwester an seiner Geldbörse herumnestelte. „Gibt es … keine Angehörigen, die ich informieren soll?“, fragte sie.
Johnny schüttelte den Kopf. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. „Doch: Rufen Sie meine Mutter an. Sie muss den Kater füttern. Die Katze ist alleine in meiner Wohnung.“
„Haben Sie die Nummer für mich?“
Johnny überlegte. „0 … 7 … 61 … “ Er schluckte schwer. Verdammter Mist! Konnte es sein, dass er sich nicht einmal an die Nummer seiner Mutter erinnerte, die sich seit Jahrzehnten nicht geändert hatte und nur aus vier Ziffern bestand? „Sehen Sie in meinem Handy nach. Der Code ist mein Geburtsdatum.“ Zumindest das wusste er noch, auch wenn ihm die genaue Zahlenfolge nicht einfallen wollte.
Keine halbe Stunde später stand seine Mutter im Zimmer. Sie trug schon seit über dreißig Jahren das gleiche Parfum – Opium von Yves Saint Laurent –, sodass er instinktiv aus seinem Dämmerschlaf hochschreckte, sobald sie durch die Tür trat. Sie stellte etwas auf dem Boden ab, vermutlich hatte sie ihm Kleidung mitgebracht, dann umfasste sie sein Gesicht mit beiden Händen und sagte mit leiser, zitternder Stimme: „Oh, mein Junge. Du siehst schrecklich aus. Was hast du nur angestellt?“
Eine Weile saß sie stumm neben seinem Bett und er erkannte nur an ihrem verhaltenen Schluchzen und der aufdringlichen Duftwolke, dass sie noch da war. Seine Zunge fühlte sich plötzlich klebrig und trocken an und der aufdringlich-süße Duft verstärkte das Gefühl noch. Johnny wusste, dass auf dem Nachtschrank ein Wasserglas stand, aber er wollte sich nicht die Blöße geben, sich vor seiner Mutter zu bekleckern. Es war schon demütigend genug, dass sie jetzt hier war und ihn bemitleidete wie ein kleines Kind. Außerdem hatte man ihn wieder an eine Infusion gehängt, sodass sein Körper so oder so mit der nötigen Flüssigkeit versorgt wurde.
„Ich werde jetzt deinen Vater anrufen“, durchbrach Violetta plötzlich das Schweigen, dann hörte er, wie sie in ihrer Handtasche kramte.
Johnny erstarrte. Er hatte fast genauso lange nicht mit seinem Vater gesprochen wie sie. Waren es fünf Jahre oder schon zehn? Ganz sicher wollte er nicht, dass er ihn so sehen konnte. „Das wirst du nicht“, erwiderte er kühl.
Sie schnalzte mit der Zunge. „Junge, sei nicht albern! Er muss doch Bescheid wissen. Bis er von München hier ist, dauert es eine Weile.“
„Ich will ihn nicht sehen.“ Johnny sprach die Worte so hart und entschlossen aus, wie er konnte. Falls sie widersprach, müsste er sich die Infusionsnadel aus dem Arm reißen, aufstehen und sie persönlich aus dem Zimmer begleiten.
Violetta schluchzte leise. „Aber Junge …“
Er schloss die Augen. „Wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann geh bitte.“
Seine Mutter erwiderte nichts, aber er hörte, dass sie den Reißverschluss ihrer Tasche wieder zuzog. Dann breitete sich die Stille erdrückend zwischen ihnen aus.
Nach einer Weile räusperte er sich. „Hast du den Kater gefüttert?“
Seine Mutter brauchte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte. „Ja, ja … das mache ich nachher gleich. Das mache ich gleich als Erstes.“
Johnny biss die Zähne zusammen. Auf einmal drohte all die Wut, die sich in den letzten Stunden in ihm aufgestaut hatte, über ihm zusammenzubrechen. Wut über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ihm so etwas Schreckliches zugestoßen war, Wut über die Ärzte, in deren fremde Hände er sein Leben legen musste, ob er wollte oder nicht. Wut über seine ganze, sinnlose Existenz. Und jetzt auch noch darüber, dass sein Kater, dieses unschuldige Tier, das nichts für Johnnys Dummheit konnte, darunter leiden musste. Er wollte all das am liebsten herausschreien, aber derbe Flüche und zornige Vorwürfe hatten Violetta noch nie beeindruckt. Also tat er, was er schon früher, als Kind, stets getan hatte, wenn sie nicht seiner Meinung gewesen war: Er schluckte die Wut herunter, ignorierte das Gefühl, als sich schmerzhaft sein Magen verkrampfte, und atmete tief ein und wieder aus. Dann sagte er so gefasst wie möglich: „Du musst ihn mit zu dir nehmen. Er frisst nur sein gewohntes Futter, aber im Vorratsschrank in der Küche sollten genügend Dosen sein.“ Es würde mehr als nur ein Bad brauchen, um den Gestank nach Nikotin und teurem Parfum wieder aus dem Fell seines geliebten Tieres zu bekommen – dabei war der Kater wasserscheu.
Violetta seufzte schwer. „Ach, Junge. Die ganzen Katzenhaare überall … du weißt doch, dass ich da manchmal ein bisschen allergisch reagiere.“
„Bitte“, fügte Johnny in flehendem Ton hinzu und deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Zu seiner Erleichterung stellte seine Mutter auch keine Fragen mehr. Er war sicher, dass die Ärzte ihr bereits alles gesagt hatten, was es zu wissen gab. Nach einer Weile stand Violetta auf, nahm den Wohnungsschlüssel vom Nachttisch – Johnny konnte hören, wie das Metall auf dem Plastik klirrte – und verabschiedete sich, indem sie unerwartet sanft über seine Wange strich.
Obwohl die Kopfschmerzen allmählich besser wurden und auch die Übelkeit nachließ, verbrachte Johnny den Rest des Morgens wie im Delirium und auch den Nachmittag und den Abend.
Aus den Stunden wurden Tage, in denen seine Gedanken immer wieder um dieselben Dinge kreisten: Er dachte an die Papierberge auf seinem Schreibtisch, die sich inzwischen wohl kaum noch bewältigen ließen, und an die Stellen im Außendienst, die erst einmal unbesetzt bleiben würden. Er dachte an seine Kollegen, die mit einer sonderbaren Mischung aus Sensationslust und Entsetzen über ihn sprechen und für Blumen samt Genesungskarte sammeln würden. Vielleicht waren sie sogar so geistesgegenwärtig, einen duftenden Strauß zu nehmen. Und er dachte an den Kater, der jetzt ein ebenso trostloses Dasein in einer Wohnung im achten Stock eines heruntergekommenen Plattenbaus in Haslach-Weingarten fristete.
Nur selten erlaubte sich Johnny, sich seine Zukunft auszumalen; sich vorzustellen, wie sein Alltag als Blinder überhaupt aussehen würde. Diese Überlegungen drohten ihn jedes Mal zu überwältigen und endeten nicht selten damit, dass er um Luft ringend, panisch und völlig aufgelöst nach der Schwester klingelte. Die gab ihm meist eine Beruhigungsspritze, mit der sich die quälenden Gedanken in einem weißen Nebel auflösten. Manchmal dachte Johnny auch an die dunkelhaarige Frau, die an diesem verhängnisvollen Abend vor zwei – oder drei? – Wochen sein schreckliches Schicksal geteilt hatte, ohne es zu wissen. Dann fragte er sich, ob Chiara, oder Camila, jetzt auch blind war. Aber er glaubte, sich dunkel daran zu erinnern, dass sie im Gegensatz zu ihm selbst nur wenig von dem Schnaps getrunken hatte.
Einmal, als die Sonne durch das geschlossene Fenster in sein Krankenzimmer fiel und kribbelnd seine Haut wärmte, ertappte sich Johnny sogar dabei, an Franzi zu denken und sich zu fragen, was sie sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Je klarer sein Verstand wurde und je besser es ihm nach Meinung der Ärzte ging, desto pathetischer fühlte er sich. Dann endlich, nach schier endlosen Wochen, war der Tag seiner Entlassung gekommen.
„Ich hatte Ihnen ja schon angeboten, dass Sie ein Sozialarbeiter aus unserer Klinik besuchen kann, um die weiteren Anträge zu stellen“, begann der Oberarzt. „Wollen Sie sich das vielleicht noch einmal überlegen?“
Johnny schüttelte den