Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

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Blindlings ins Glück - Ria Hellichten

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Stimme am anderen Ende der Leitung zögerte. „Haben Sie Schmerzen im Auge oder sonstige Beschwerden?“

      Johnny stöhnte. „Zählt ein übler Kater dazu?“

      Die Telefonistin schien keinen Spaß zu verstehen. „Hier ist die Notrufzentrale. Wenn Sie sich nicht in akuter Gefahr für Leib und Leben befinden, wenden Sie sich bitte an –“

      Allmählich war seine Geduld zu Ende. „Verdammt noch mal!“, brüllte Johnny in sein Handy. „Ich kann nichts sehen! Ich finde alleine noch nicht mal zur Toilette, okay?“

      „Bitte bleiben Sie ruhig. Nennen Sie mir Ihre Adresse, dann schicke ich einen Krankenwagen vorbei.“

      Johnny schluckte. Er wollte nicht mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren werden wie ein Invalider. „Haben Sie denn keinen Arzt, der Hausbesuche macht? Einen Augenarzt am besten.“

      „Warten Sie einen Moment, ich verbinde Sie.“

      Mit der freien Hand fuhr sich Johnny durch die Haare und wartete. Was für ein beschissener Morgen! Es konnte wohl kaum noch schlimmer kommen. Kurz darauf meldete sich eine andere Frauenstimme und Johnny musste sich anhören, dass auch der ärztliche Bereitschaftsdienst keine Hausbesuche abstattete.

      „Haben Sie jemanden, der Sie ins Krankenhaus fahren kann?“, fragte die Telefonistin.

      Johnny überlegte. Seine Mutter könnte ihn sicher fahren, aber da würde er lieber im Schlafzimmer krepieren. „Danke, ich komme schon irgendwie hin“, nuschelte er ins Handy. Dann legte er auf.

      Was er jetzt brauchte, wäre jemand, der keine Fragen stellte. Der machte, was man ihm sagte, und über die ganze Sache morgen im Büro kein Wort verlieren würde. Morgen im Büro? Was, wenn er morgen nicht ...

      Johnny wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, wie um den Gedanken zu vertreiben, und wandte sich wieder seinem Handy zu. „Siri, ruf Babsi an.“ Babsi war seine Assistentin. Oder zumindest das, was dem in seiner Abteilung am nächsten kam.

      „Ich finde keinen Bab-si in deinen Kontakten.“

      „Siri, ruf BARBARA an.“ Allmählich nervte ihn die Konversation mit seinem Telefon und er freute sich da-rauf, endlich persönlich mit einem Menschen sprechen zu können – selbst wenn es nur Babsi war.

      Die Sekunden, bis jemand den Hörer abnahm, zogen sich unerträglich. Na komm, Babsi, dachte er, geh ran. Was konnte sie an einem Sonntag schon vorhaben?

      „Münzer?“, meldete sich eine zarte Frauenstimme.

      „Babsi, haben Sie noch die alte Klapperkiste?“

      „Herr Baumann, sind Sie das?“

      Johnny stöhnte. „Hundert Punkte, Babsi.“

      „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich für Sie Barbara heiße?“

      „Jaja. Also, Babsi – Barbara –, kommen Sie sofort her, ich muss dringend ins Krankenhaus.“

      „Ist was passiert?“, fragte Babsi. „Ein Notfall?“ Ihre ohnehin hohe Stimme überschlug sich fast und schmerzte in seinen Ohren.

      Johnny knirschte mit den Zähnen. „Ja, so ungefähr. Holen Sie mich jetzt ab?“

      Babsi zögerte. „Sie wissen aber, dass heute Sonntag ist? Und Sie hören sich gar nicht krank an.“

      Johnnys stechende Kopfschmerzen machten diese Diskussion noch nervenaufreibender. „Und wissen Sie, dass Ihr Gleitzeitkonto ziemlich in den Miesen ist?“

      Sie schnaubte. „Es ist doch einfach nicht zu fassen –“

      „Kommen Sie jetzt … bitte?“

      Wortlos legte Babsi auf. Aber Johnny war sicher, dass sie genau in diesem Moment aus ihrer Wohnung stolperte und in spätestens einer halben Stunde ihren alten Golf vor der schicken Altbauvilla in der Wiehre geparkt hätte, in der seine Maisonettewohnung lag.

      Barfuß schlich er über den Holzfußboden und dachte nach. Um Babsi die Tür zu öffnen, musste er die Treppe hinuntergehen, in den Flur, wo sich die Gegensprechanlage befand. Wahrscheinlich wäre es auch nicht verkehrt, wenn seine Boxershorts und das durchgeschwitzte T-Shirt nicht die einzigen Kleidungsstücke wären, mit denen er im Krankenhaus auftauchte. Er hatte eine vage Ahnung, wo sich seine Jogginghose im Kleiderschrank befinden musste. Vielleicht könnte er den dicken Sweatstoff sogar erfühlen. Aber um sicherzugehen, sollte er das lieber Babsi überlassen, die sicher nichts dagegen hätte, wenn er ihr fast so gegenüberstünde, wie Gott ihn geschaffen hatte. Na gut, Gott und das örtliche Fitnessstudio. Trotz der beängstigenden Situation, in der Johnny sich zweifellos befand, amüsierte ihn dieser Gedanke. Und obwohl er wusste, dass er es mit seiner zynischen Art manchmal übertrieb, war ihm im Moment alles recht, was die Gedanken davon abbrachte, um dieses eine fatale, unaussprechliche Wort zu kreisen.

      Mit der rechten Hand fuhr Johnny sich über die Bartstoppeln am Kinn. Er war sicher, dass man ihm das wilde Partywochenende ansah. Vermutlich hatte er Augenringe und eine ungesunde Gesichtsfarbe. Er wusste zwar, dass er einer der wenigen Männer war, denen selbst ein gewisses heruntergekommenes Flair gut stand, aber trotzdem wuchs seine innere Unruhe, weil er sich nicht ausgiebig im Spiegel betrachten konnte wie an jedem gewöhnlichen Morgen.

      Die Klingel ertönte und Johnny zuckte zusammen. Er hörte, wie der Kater leichtfüßig voranlief und die Treppe herunterschwebte, aber er selbst hatte Mühe, ins untere Stockwerk zu gelangen, ohne sich dabei den Hals zu brechen. Mit einer Hand umfasste er das lackierte Holzgeländer, das sich glatt und kühl anfühlte, während seine nackten Zehen vorsichtig Stufe um Stufe ertasteten. Nie im ganzen Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Aber der Arzt würde ihm irgendwelche Augentropfen verschreiben und in ein paar Stunden wäre der Spuk hoffentlich vorbei. Johnny arbeitete sich zur Sprechanlage vor – nicht ohne sich den Fuß kräftig an der Vitrine mit den Modellautos zu stoßen – und drückte auf den Summer. Babsis Absätze klimperten auf dem Marmorboden, als sie über die Loggia auf seine Wohnungstür zusteuerte. Dann klopfte es energisch an der Tür.

      „Ist offen“, rief er.

      Babsi zog die Tür auf und kam auf ihn zu. Er spürte den Luftzug, den ihre Bewegungen verursachten, und roch ihr übersüßes Parfum. Wahrscheinlich musterte sie ihn gerade mit entsetztem Blick. Auch Designer-Boxershorts ersetzten nun mal keinen Stresemann und sein Outfit wäre selbst an einem Casual Friday nicht durchgegangen.

      „Um es kurz zu machen und uns die Peinlichkeiten zu ersparen, Babsi: Ich scheine da ein Problem mit meinen Augen zu haben, sicher nur vorübergehend. Sie sehen aber trotzdem bezaubernd aus, wie immer.“

      Sie schnaubte.

      „Tun Sie das nicht, das ist nicht sehr damenhaft.“ Er machte ein paar Schritte auf sie zu und tastete sich dabei unbeholfen an der Wand entlang.

      Es dauerte einen Moment, bis Babsi antwortete. „Ist das ein schlechter Scherz? Soll das heißen, dass Sie nichts mehr sehen können?“ Sie hielt inne und er hörte, wie sie nach Luft schnappte. „Sind Sie etwa blind?“

      Blind. Schon wieder dieses Wort, das ihm durch Mark und Bein ging. Zum zweiten Mal, seit er an diesem elenden Morgen aufgewacht war, drohte ihn die blanke Angst zu überwältigen. Johnny zwang sich zu einem Lächeln. „Ach, papperlapapp, jetzt machen Sie mal nicht die Pferde scheu. Wenn Sie bitte so gut wären,

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