Blindlings ins Glück. Ria Hellichten
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Johnny machte eine abweisende Handbewegung. „Ich brauche keinen Psychologen.“ Er stand mit wackeligen Schritten auf. In den letzten Wochen hatte er sein Bett nur für ein paar kurze Spaziergänge im Park des Klinikums verlassen, stets in Begleitung einer Schwester natürlich.
„Die Entlassungspapiere schicken wir direkt an Ihren Hausarzt. Sollen wir jemandem Bescheid geben, der Sie abholen kann?“
„Ich kann meine Mutter selbst anrufen, danke.“
„Möchten Sie, dass eine Schwester Sie ins Foyer bringt?“
Johnny wollte widersprechen. Aber der Wunsch, wieder nach Hause zu kommen, war größer als das bisschen Stolz, das ihm noch geblieben war – und allein würde er sich zweifellos im Irrgarten der Klinikflure verlaufen. Er nickte stumm. Der Arzt drückte auf den Rufknopf und verabschiedete sich.
Als er wieder allein war, zog Johnny sein Handy aus der Hosentasche. „Siri, ruft Violetta an.“ Am Telefon fasste er sich so kurz wie möglich und legte auf, bevor seine Mutter ihn mit neuen Fragen überhäufen konnte. Gleich darauf kam die Schwester herein und begrüßte Johnny freundlich. Für einen Moment atmete er auf.
Schließlich stand er mit der Sporttasche in der Hand im Krankenhausfoyer. Er überlegte, ob er nicht lieber ein Taxi hätte rufen sollen, aber das wäre nur wieder ein Fremder gewesen, der ihn angestarrt hätte; selbst wenn er die brennenden Blicke nicht sehen, sondern nur spüren konnte.
Johnny lauschte auf die automatische Eingangstür, die bei jedem Öffnen und Schließen ein disharmonisches Surren von sich gab. Vermutlich standen hier auch die Aschenbecher, denn eine Nikotinwolke drang zu ihm herüber und er konnte hören, dass sich in ein paar Metern Entfernung jemand unterhielt. Am liebsten wäre er hingegangen, um nach einer Zigarette zu fragen. Das hätte sein miserables Leben wenigstens für einen Moment erträglicher gemacht. „Verdammte Scheiße“, fluchte er leise, aber mit jeder Sekunde wuchs die Gleichgültigkeit, die ihn betäubend umhüllte. Er war Ende dreißig und wartete wie ein Schuljunge, der etwas ausgeheckt hatte, darauf, dass seine Mutter ihn abholte. Es war entwürdigend – und es machte ihm nicht einmal etwas aus.
BEA
Endlich war es so weit: Der ältere Mann hielt inne, zumindest für einen Augenblick. Kurz zuvor hatte er sich von dem Eichenpult erhoben – die ausgeblichene schwarze Robe spannte dabei nicht sehr würdevoll an seinem Oberkörper –, um zu verkünden: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte wird für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.“
Tabea unterdrückte den Drang, sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn zu streichen. Jetzt war ihr Einsatz. Auch wenn sie jedes Mal Panik überkam, liebte sie den Augenblick. Die Stille, die nur einen Herzschlag lang andauerte, kurz bevor man das erste Mal zu seinem Publikum sprach. Es war der gleiche vertraute Adrenalinrausch, der sie immer dann durchströmte, wenn sie hinter dem Vorhang hervortrat, auf die Bretter trat, die die Welt bedeuteten. Dabei dachte sie immer nur an den ersten Satz oder das erste Wort. Wenn man einmal angefangen hatte, lief es von allein. Auch wenn das hier eigentlich keine Bühne war.
Sie sah dem Richter in die Augen. Er hatte schon den kleinen Hammer erhoben und der hölzerne Kopf zitterte in der Luft, als sie den Mund öffnete, um zu sprechen. „Ich beantrage, eine Ersatzfreiheitsstrafe anzutreten.“
Aus dem Augenwinkel sah Tabea, dass eine blonde Frau im Publikum zusammenzuckte: ihre Mitbewohnerin Doro. Trotzdem fuhr sie fort: „Auch wenn ich gegen das Gesetz verstoßen habe, bereue ich nichts. Die letzte Wiese auf dem Campus zuzupflastern, war eine Fehlentscheidung. Die Ausbetonierung der begrünten Fläche hat dafür gesorgt, dass die Temperatur in der Innenstadt um circa zwei Grad angestiegen ist und noch weiter ansteigen wird. Aber noch bedenklicher ist die Tatsache, dass die freigelegten Grundmauern der alten Synagoge einfach wieder zugeschüttet werden sollen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dieses Mahnmal der Reichskristallnacht zu würdigen, indem man beispielsweise –“
An diesem Punkt wurde sie von dem weißhaarigen Mann unterbrochen. Er hatte die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen. „Frau Bach, eine Ersatzfreiheitsstrafe kommt nur bei Zahlungsunfähigkeit infrage. Ihr Anwalt wird Sie dazu beraten. Und die Beweggründe für Ihre … Aktion haben Sie bereits zur Genüge erläutert. Das Urteil ist hiermit verkündet.“ Er schlug seinen Hammer jetzt umso kräftiger auf das Pult. „Ich erkläre die Verhandlung für geschlossen.“
Es hätte schlimmer kommen können. Tabea hatte erwartet, deutlich mehr Spott aus den Worten des Richters herauszuhören. Immerhin hatte sie nicht einfach friedlich mit einem Plakat demonstriert, sondern sich an einen Bagger gekettet, um die Arbeiten auf der Baustelle zu behindern. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ihr Fall vielleicht genügend mediale Aufmerksamkeit bekommen würde, um die Umgestaltung des Campus in letzter Sekunde zu verhindern. Auch wenn ihre Aktion manchen Mitbürgern etwas übertrieben vorkommen musste, ging es für sie um mehr als ein paar hundert Quadratmeter Granit. Sie wollte, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten niemals in Vergessenheit gerieten – und somit auch nicht die Erinnerung an ihren Großvater, den sie nur aus Erzählungen kannte.
Tabea starrte dem Richter trotzig in die Augen und blieb stehen, bis ihr Verteidiger Platz genommen hatte und beharrlich am Ärmel ihres Blazers zupfte. Widerwillig gab sie nach und setzte sich wieder. Ihr Anwalt schob seine Unterlagen zusammen. „Das Urteil war zu erwarten, Frau Bach. Wir besprechen alles Weitere nachher in meinem Büro. Gehen Sie doch erst mal etwas essen.“
Tabea nickte, schüttelte kurz seine Hand und beeilte sich, nach draußen zu kommen. An ein Mittagessen war allerdings nicht zu denken, denn in zwanzig Minuten musste sie im Sprechzimmer von Professor Kohlmeis sein und sie wusste nur zu gut, wie sehr er Unpünktlichkeit verabscheute.
Aber bevor sie durch das Eingangsportal des Amtsgerichts eilen konnte, legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter. „Bea!“, zischte eine vertraute Frauenstimme. Im nächsten Moment wurde Tabea in eine ruhige Ecke des Flurs gezogen. „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?“ Doro sah sie eindringlich an. Ihre blauen Augen funkelten wütend. „Du willst wegen ein paar alter Steine in den Knast gehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
Tabea versuchte erfolglos, sich aus dem Griff ihrer Freundin zu wenden. „Du weißt, wie wichtig mir das ist.“
Doro verengte skeptisch die Augen. „Ich kann es einfach nicht fassen! Wenn du wenigstens den Schlüssel nicht ins Gebüsch geworfen hättest, wäre die Feuerwehr nicht gerufen worden, um dich loszuschneiden, und es wäre bestimmt auch nicht zur Anklage gekommen.“
„Doro, das bringt doch jetzt nichts. Können wir das später in Ruhe besprechen? Ich muss gleich zur Kohlmeise.“
Ihre Mitbewohnerin ließ sie los und schüttelte nur stumm den Kopf.
In diesem Moment rief jemand vom Saal her ihre Namen: „Bea, Doro!“ Die hohe Stimme des jungen Mannes war Tabea nur zu vertraut. Flüchtig kam ihr der Gedanke, einfach so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Aber dann drehte sie sich um und zwang sich, zu lächeln. „Justus! Was machst du denn hier?“
Doro warf Tabea einen bedeutsamen Blick zu, so, als wollte sie sagen: Ist doch offensichtlich, was der hier macht – dasselbe wie in den letzten zwei Monaten. So lange war es her, dass Tabea ihm unter dem Einfluss von einer Menge Alkohol