Mord oder Absicht?. Lothar Schöne

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Mord oder Absicht? - Lothar Schöne

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mir geht es doch nicht um ein Ei“, stöhnte Vlassi auf.

      „Es geht immer ums Ei, Herr Kollege“, teilte Feuer energisch mit, „Sie haben offenbar nur vergessen, ob es sich um ein Hühner- oder Straußenei handelt.“

      „Was Großes war’s schon“, stimmte Vlassi leise zu.

      „Na sehen Sie, das ist doch schon mal ein Anhaltspunkt“, erklärte Kriminalrat Feuer, als habe er das Tot-Sein Vlassis auf den Punkt gebracht.

      Julia fragte nüchtern: „Aber wie hilft ihm sein Straußenei?“

      „Ein Anhaltspunkt, wie ich schon sagte“, stellte Feuer fest, „von hier muss man weiterforschen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass ein so fähiger, wenn auch verquerer Beamter wie Kommissar Spyridakis bald herausfindet, wie das Straußenei zu seinem Gedächtnisschwund führte.“

      Vlassi sah ihn verdattert an, während Julia nickte und mit Ironie in der Stimme anmerkte: „Ja, ja, er wird bestimmt schnell entdecken, wie ein Ei seine Erinnerung blockiert.“

      Feuer warf einen missmutigen Blick zu ihr, doch da er heute offenbar mit guter Laune in den Tag gestartet war, sagte er generös in Richtung Vlassi: „Wissen Sie, Herr Spyridakis, nehmen Sie sich den Tag frei, gehen Sie in den Kurpark spazieren, da kommen Sie auf andere Gedanken, und alles fällt Ihnen wieder ein.“

      Er ging zur Tür, öffnete sie, drehte sich noch einmal herum und teilte Vlassi jovial mit: „Morgen sind Sie ein neuer Mensch.“

      Kaum war er draußen, wandte sich Vlassi an Julia: „Morgen bin ich vielleicht doppelt tot.“

      „Das ist gut möglich“, erwiderte sie, „aber Herr Feuer hat mich auf eine Idee gebracht, er ist, ohne es zu wissen, mitunter ganz hilfreich.“

      „Eine Idee …“, murmelte Vlassi.

      Julia gab keine Auskunft, griff stattdessen zum Telefonhörer und wählte eine Nummer.

      Schon nach dem ersten Klingeln meldete sich auf der Gegenseite eine männliche Stimme, Vlassi konnte nicht hören, welche es war, erkannte aber rasch, um wen es sich handelte.

      Seine Chefin sprach mit ihrem Vater Wolfgang Hillberger, teilte ihm in kurzen Worten mit, dass sie einen schwierigen Fall vor sich habe, worauf Hillberger sie unterbrach: „Das kann nur der Spyridakis sein! Der ist doch die Schwierigkeit in Person.“

      Julia bejahte seine Feststellung nicht, wollte stattdessen wissen, ob ihr Vater einen Psychiater kenne, der mit Gedächtnisschwund umgehen könne.

      „Das kann jeder, das ist ihr Beruf!“, schnarrte Hillberger, während Vlassi auf der anderen Seite des Schreibtischs aufstöhnte: „Zum Nervenarzt soll ich? Ich bin doch nur tot und nicht plemplem.“

      Wolfgang Hillberger hatte Vlassis Stöhnrede nicht gehört, stellte aber ebenfalls fest: „Ist der Spyridakis jetzt vollständig abgedreht, ganz von der Rolle?“

      Julia antwortete: „Das ist sein Wesen, Papa. Damit muss man klarkommen.“

      „Mein Wesen“, griff Vlassi wieder ein, „mein Wesen ist das Tot-Sein. Erklären Sie das Ihrem Vater mal. Damit muss ich klarkommen.“

      „Und vor allem ich“, teilte Julia ihm über den Schreibtisch hinweg mit.

      Hillberger erklärte seiner Tochter: „Also einen Psychiater braucht er. Es gibt ja bei der Polizei auch welche. Von denen rate ich ab. Ein alter Studienfreund von mir praktiziert nach wie vor. Ein sehr einfühlsamer Mann ist das. Der ist was ganz Besonderes, er ist nämlich psychologischer Psychotherapeut. Er wohnt in Geisenheim, da müsste der Spyridakis hin.“

      „Wie heißt er denn, und weißt du zufällig auch die Straße, wo er praktiziert?“, fragte Julia.

      „Niebergall heißt er, Doktor Niebergall. Ich will ihn zu meinem neuen Kaffeebruder machen, nachdem der alte ja einen mörderischen Abflug gemacht hat …“

      „Du sprichst von Konrad Neumann und unserem letzten Fall“, schob Julia ein.

      „Ja, natürlich. Der Niebergall wäre ein prima Ersatz für den Neumann, der es ja nicht ins Eis geschafft hat.“ Wolfgang Hillberger machte eine kleine Pause: „Also der Niebergall hat seine Praxis in Geisenheim in der Haasenstraße, die schreibt sich mit zwei a. Ich glaube, die Nummer ist 24. Das muss der Spyridakis recherchieren.“

      „Danke, Papa“, murmelte Julia und legte auf.

      Vlassi hatte versucht, möglichst viel von ihrem Telefonat mitzukriegen, jetzt schaute er seine Chefin von seiner Schreibtischseite streng an: „Ich soll wohl zu einem Seelenklempner, den noch dazu Ihr Vater empfiehlt?“

      „Mein Vater empfiehlt nur Wertvolles, das sollten Sie längst wissen. Und da Sie ohne Gedächtnis hier nur wertlos herumsitzen, sollten wir seine Empfehlung annehmen.“

      Vlassi richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ich muss protestieren! Sogar als erinnerungsloser Toter besitze ich einen gewissen Wert.“

      „Aber natürlich, Herr Spyridakis“, stimmte Julia zu und fuhr mit warmer Stimme fort: „Aber den Wert können wir steigern, wir wollen doch wieder einen vollwertigen Kommissar Spyridakis in unserer Mitte haben.“

      „Ich weiß nicht“, murrte Vlassi, „ob der Ratschlag von Kriminalrat Feuer meinem toten Wesen nicht angenehmer ist. Lieber einen Tag freinehmen und spazieren gehen.“

      „Auf keinen Fall“, entgegnete Julia, „gerade Tote ohne Erinnerung lieben es, verarztet zu werden, noch dazu von einem Mann mit einem so klangvollen Namen wie Niebergall und so einer wunderbaren Berufsbezeichnung wie psychologischer Psychotherapeut.“

      3 Sind Sie außer Gefahr?

      Vlassi saß in seinem opulenten Dienstwagen, dem Opel Corsa, und fuhr eben durch Eltville. Da er kein Navi besaß, hatte er sich vorher auf der Karte kundig gemacht, wo er hinsollte. Irgendwie, überlegte er, während er an der MM-Sektmanufaktur vorbeifuhr, hatte Julia Wunder vielleicht doch recht. Er musste seine Gedächtnisschwäche überwinden, und sei es mit Hilfe eines Seelenklempners.

      Er fuhr am Rhein entlang, kam nach Erbach und Hattenheim, ließ Oestrich-Winkel hinter sich, und jetzt musste Geisenheim doch bald auftauchen. Tatsächlich sah er ein Hinweisschild, der Ort lag nicht direkt am Rhein, entbehrte also gewissermaßen der Schifffahrt und frischen Brise des Flusses – aber das sollte ihn nicht stören.

      Vlassi parkte seinen Corsa am Eingang des Ortes, anderes war auch nicht möglich, da Geisenheim offenbar Durchgangsverkehr verschmähte. Zu Fuß machte er sich auf zur Haasenstraße und war überrascht. Nämlich von der Schönheit des Ortes. Einen wunderbaren Marktplatz besaß Geisenheim und sogar einen Dom, wie er feststellte. Und die vielen Cafés und Restaurants hatte er auch nicht erwartet. Hier herrschte ja geradezu griechische Atmosphäre. Aber das Beste, stellte er fest, war wohl eine Buchhandlung namens Untiedt. Die war opulenter als jene, die er so gern aufsuchte, nämlich die von Andreas Dieterle in Schierstein. Es ist nicht verkehrt, ging es ihm durch den Kopf, dass ich diesem Niebergall einen Besuch abstatte, vermutlich wäre ich sonst nie in diesem Geisenheim gelandet, das ist ja ein wahres Kleinod des Rheingaus. Eigentlich bin ich ja ein Wiesbaden-Fan, aber hier könnte ich auch Mördern nachjagen. Und ein weiterer edler Gedanke strich ihm durchs Hirn: Sollte ich nicht mal mit Carola nach Geisenheim fahren und sie eventuell zum Essen einladen?

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