Mord oder Absicht?. Lothar Schöne
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Vlassi riss sich am Riemen. Nein, nein, nein! Dieser Niebergall ging vor. Nicht, weil er seiner Chefin einen Gefallen tun wollte, er musste sich selbst diesen Gefallen tun. Sollte er denn ewig ohne Gedächtnis vor sich hinvegetieren? Carola eventuell beichten, dass er nicht mehr ganz unter den Lebenden weilte? Er musste sein Tot-Sein überwinden, und dieser Dr. Niebergall war vermutlich die richtige Adresse dafür.
Die Haasenstraße hatte er bald gefunden. Allerdings praktizierte Dr. Niebergall nicht in der Nummer 24, sondern 27. Schon nach dem ersten Klingeln öffnete ihm ein kleiner glatzköpfiger Mann die Tür. Er war korpulent, aber nicht dick und wirkte wie ein ehemaliger Preisringer. Auf die siebzig musste er zugehen, schätzte Vlassi, was ihm gefiel. Junge Ärzte konnte er seit dem Pharma-Fall, wo er mit Vergiftungssymptomen in eine Mainzer Klinik eingeliefert wurde, nicht ausstehen. Dieser Niebergall schien Erfahrung zu besitzen.
„Sie sind Herr Spyridakis?“, begrüßte ihn der korpulente Herr.
„In Person“, bejahte Vlassi.
„Kommen Sie herein, ich bin Doktor Niebergall, und Ihr Besuch wurde mir von meinem alten Freund Hillberger angekündigt.“
„Er hat Sie mir dringend empfohlen“, teilte Vlassi mit.
Dr. Niebergall führte ihn in sein Behandlungszimmer, einen Raum mit einem großen Schreibtisch, hinter dem ein opulenter Ledersessel stand, einer Bücherwand bis zur Decke und einem Besuchersessel. Nun ja, vielleicht sollte man eher von einem Sesselchen sprechen.
„Nehmen Sie Platz“, forderte ihn der Psychotherapeut auf.
Vlassi setzte sich zögernd, das Sesselchen wippte auf und nieder und schien nicht sehr stabil zu sein.
„Fühlen Sie sich wohl?“, eröffnete Dr. Niebergall das Gespräch.
„Ja … eigentlich schon.“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Niebergall und sah ihn ernst an.
„Warum denn?“, wollte Vlassi wissen.
„Sie sagen nicht die Wahrheit“, teilte der Psychiater mit und ließ sich in seinen schweren Sessel fallen.
„Sollte ich mich bei Ihnen eher elend fühlen?“, fragte Vlassi.
„Sie sollen sich bei mir wohl und wohler fühlen. Aber das tun Sie doch im Moment gar nicht.“
Vlassi sah den Mann an, der im Sitzen viel größer wirkte. Seine Glatze schimmerte auf einmal rosa, und seine Knollennase schien jedes Geruchsmolekül einzusaugen. Roch Dr. Niebergall etwa Angst bei ihm?
„Ich habe keine Angst“, erklärte Vlassi.
„Das rieche ich, und das meinte ich auch nicht“, teilte ihm der Psychiater mit.
„Was meinten Sie denn?“, wagte sich Vlassi vor.
„Sind Sie außer Gefahr?“
„Bin ich außer Gefahr?“, wiederholte der Kommissar.
Sein Gegenüber nickte und wiederholte drängend: „Sind Sie außer Gefahr?“
Vlassi griff wegen seines schwankenden Sesselchens zur Schreibtischkante: „Also … ich weiß nicht … ich führe ja generell ein gefahrvolles Leben, im letzten Fall wäre mir beinahe eine Theatertruppe zum Verhängnis …“
Dr. Niebergall unterbrach ihn: „Schon gut, schon gut. Sind Sie im Moment außer Gefahr?“
„Ich glaube schon … oder sind Sie die Gefahr?“
Der Psychotherapeut beugte sich vor: „Glauben Sie, ich wollte Sie umbringen?“
„Ich hoffe doch nicht, Sie wirken nicht wie ein Umbringer. Ich verspreche mir stattdessen etwas von Ihnen, also ich will sagen, ich glaube ans Heil von Ihnen.“
Dr. Niebergall lehnte sich wieder zurück und sagte enttäuscht: „Heil ist ein theologischer Begriff. Den können Sie bei mir weglassen.“ Er machte eine kurze Pause: „Natürlich sind Sie in Gefahr! Haben Sie das nicht gemerkt?“
„Ehrlich gesagt: nein“, teilte Vlassi mit unschuldigem Augenaufschlag mit, „könnten Sie mir sagen, woher mir Gefahr droht?“
Dr. Niebergall wippte wieder nach vorn und sagte mit unheilvoller Stimme: „Ihnen droht Gefahr von dem kleinen Sessel, auf dem Sie sitzen.“
„Von dem?“, erwiderte Vlassi und erhob sich sofort, „ist der vergiftet und dringt das Gift schon in mein Zeugungsorgan und meinen ganzen Unterleib? Wird es mich dahinraffen?“
Auf dem Gesicht des Psychiaters zeigte sich kein noch so winziges Schmunzeln. Mit ernstem Gesicht teilte er mit: „Sie denken viel zu verquer. Von Gift kann keine Rede sein. Aber der Sessel, auf dem Sie sitzen, ist doch wahrlich nicht bequem, Sie müssen sich doch schon am Schreibtisch festhalten.“
Vlassi ächzte beruhigt auf und ließ sich wieder nieder: „Da haben Sie recht, es ist eine unbequeme Sitzgelegenheit, die einen zu Fall bringen könnte.“
„Sie sagen es. Zu Fall bringen! Wer sich auf so einen Stuhl setzt, ist auch generell gefährdet.“ Der psychologische Psychotherapeut sah unseren Kommissar von oben an: „Es ist mein Testsessel. Er sagt mir viel über meine Patienten.“
Vlassi gab ein leises Stöhnen von sich. Es handelte sich natürlich um ein theatralisches Stöhnen, schließlich hatte ihn der letzte Fall gelehrt, dass man mit schauspielerischen Fähigkeiten weit kommen konnte. Dann sagte er mit trostloser Stimme: „Also bin ich generell gefährdet?“
„Der Sessel, auf dem Sie sitzen, sagt es mir.“ Dr. Niebergall stützte sich mit seinen Ellbogen auf den Schreibtisch und legte seine Hände aufs Gesicht, sodass nur noch die Knollennase hervorlugte. Schließlich sprach er: „Darf ich Ihnen noch etwas mitteilen?“
„Unbedingt. Ich bin offen für alles.“
„Dann muss ich Ihnen sagen, Herr Spyridakis, Sie sind etwas begriffsstutzig.“
„Tatsächlich?“, fragte Vlassi neugierig.
Niebergall nahm die Hände von seinem Gesicht: „Wie lange Sie gebraucht haben, die Funktion des Sessels unter Ihnen zu erkennen!“
Vlassi stimmte dem Psychiater zu dessen Erstaunen zu: „Da haben Sie irgendwie recht. Ich würde allerdings nicht von begriffsstutzig sprechen, sondern von intuitiver Vorsicht. Ich wollte Sie zuerst kommen lassen.“
Der Doktor sah ihn verdutzt an. Jetzt lächelte er. Offenbar gefiel ihm die Reprise seines Patienten.
„Ich merke“, sagte er anerkennend, „dass Ihre Fähigkeiten versteckt gehalten werden …“
„Ja, ja“, nickte Vlassi, „und wissen Sie auch, von wem?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern gab dem Psychiater sogleich Aufklärung: „Von meinem unterirdischen Ich! Da werden sie unter Verschluss gehalten bis zu ihrem Ausbruch.“
„Aha, intuitive Vorsicht.“, beugte sich Dr. Niebergall vor.
Vlassi