Mord oder Absicht?. Lothar Schöne
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Schon saß er im Garten eines nahe dem Dom gelegenen Cafés bei Kaffee und Kuchen. Der erste Schluck des heißen Getränks tat ihm gut, sodass er dachte, ich sollte vielleicht vollends zu Kaffee übergehen und den gesunden Moringa-Tee ganz beiseitelassen. Moringa könnte mir in meiner verqueren Lage jetzt auch nicht helfen, er würde mich einlullen und mir vorgaukeln, dass ich gesund bin und immer gesünder werde. Wo doch das Gegenteil der Fall ist! Ich bin nicht nur tot, ich bin ein totes Wrack – so fühle ich mich jedenfalls. Obwohl eigentlich alles an mir noch dran ist. Alles? Die Erinnerung fehlt halt.
Vlassi lehnte sich zurück. Das Gespräch mit dem psychologischen Psychotherapeuten ging ihm durch den Kopf. Schon die Berufsbezeichnung ist doch irgendwie übertrieben, eigentlich doppelt gemoppelt. Dieser Niebergall, überlegte er weiter, war zwar rabiat, doch dämlich kam er mir nicht vor.
Wir sind alle tot, sagte er, wissen es nur nicht. Das schien Vlassi auf einmal ein sehr wahres Wort zu sein. Die meisten wissen nicht, dass sie als tote Typen durch die Gegend irren, ich dagegen schon. Tot ist doch mal was anderes. Wer will denn schon immer leben. Jene Leute, die gerade dem Dom zustreben – sie glauben doch nur, dass sie lebendig sind, in Wirklichkeit werden sie lediglich durch ein Inneres aus Holzwolle aufrecht gehalten. Die sind vermutlich völlig unlebendig, haben aber keine Ahnung von ihrem desolaten Zustand. Aber was hilft es mir, dass ich es weiß …
Ihm fiel ein, dass Dr. Niebergall seine Eltern als Schuldige ausgemacht hatte, sie seien verantwortlich für seine jetzige Situation. Ach ja, immer die Altvorderen, das ist wohl ein bewährtes Rezept von solchen Niebergallen. Wenn ihnen sonst nichts einfällt, müssen die Eltern herhalten. Seinen Eltern, dachte Vlassi, konnte er überhaupt keinen Vorwurf machen.
Sie hatten ihn ins Leben gebracht und nicht in den Tod gestoßen, in dem er sich jetzt wähnte. Sie hatten getan, was sie tun konnten, hatten nicht nur seinen Plan, aufs Gymnasium zu gehen, gefördert, sondern auch seine Polizei-Ambitionen unterstützt. Ein Grieche in der deutschen Polizei! Das war ziemlich ungewöhnlich, aber bald schon Realität.
Vlassi kam in den Sinn, dass der Psychotherapeut an einer gewissen Stelle ihres Gesprächs ausgerastet war. Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?, hatte er ausgerufen. Und danach kam der Hinauswurf. Einen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht, gäbe es nicht.
Vlassopolous Spyridakis griff nachdenklich zu seiner Tasse Kaffee. Vielleicht war der Besuch bei Dr. Niebergall doch nicht ganz umsonst gewesen. Vielleicht war Vlassis naseweiser Hinweis, dass er ein Fall für die medizinischen Lehrbücher sei, ganz daneben. Vielleicht lag der Arzt richtig mit seinem Zorn.
Es musste einen Vorfall geben, der ihm den Tod beschert und das Gedächtnis geraubt hatte – einen Vorfall, der nicht Jahre zurücklag, sondern in der jüngsten Vergangenheit siedelte. Die jüngste Vergangenheit? Gerade die war ihm abhandengekommen. Er konnte im Grunde froh sein, dass er noch seinen Namen kannte und wusste, was er beruflich trieb. Hätte er nicht auch der Vorstellung anhängen können, dass er bei der Müllabfuhr seine Brötchen verdiente? Am Bahnhof Klos reinigte? Oder beim Standesamt Heiratswilligen die Ringe ansteckte? Nein, er wusste, dass er bei der Polizei arbeitete, er wusste, dass Julia Wunder seine Chefin war, er wusste, dass er mit Carola befreundet war, er wusste sogar, dass Kriminalrat Feuer ein besserwisserischer Vorgesetzter war und seit Jahren nach Höherem strebte.
„Herr Doktor Niebergall“, murmelte Vlassi, „ich muss Abbitte leisten, Sie hatten recht, es handelt sich bei mir nicht um einen jahrelangen Gedächtnisschwund. Sie sind ein wahrer psychologischer Psychotherapeut.“
Er hielt inne und dachte: Und deshalb werde ich auch nicht den Teufel aufsuchen. Wie sollte der mir helfen, wahrscheinlich wäre er unzufrieden mit mir und würde mir sogar einen Aufenthalt in der Hölle verweigern. Obwohl ich einen Besuch dort ganz interessant fände, es muss ja nicht lang dauern, mehr so ein Hineinschnuppern könnte es sein …
Im selben Moment kam Vlassi der Gedanke, dass er sich eigentlich schon in der Hölle befand. Hölle! Hölle! Das ist doch nur das Pseudonym für eine ausweglose Situation! Wer sich nicht an die jüngste Vergangenheit erinnerte, wer als erinnerungsloser Toter durch die Gegend schlappte – war der nicht bereits in der Hölle angelangt? Er nahm mit der Gabel ein Stück von seinem Kuchen, einer Teigware aus Pflaumen und Streuseln, und trank einen Schluck Kaffee. Beides genoss er. Seltsam, dachte er, dass mir die Hölle schmeckt – sie schmeckt überhaupt nicht übel.
Keine zehn Minuten später stieg er in seinen Dienstwagen und trat die Heimfahrt an. Sein Blick schweifte von der Straße zum Rhein, und er überlegte, wohin sein Weg ihn führen sollte. Ins Büro zu Julia Wunder? Aber der könnte er nur von seinem Misserfolg bei Dr. Niebergall berichten. Dabei hatte sie sich solche Mühe mit ihm gegeben – konnte er sie da enttäuschen?
*
Hauptkommissarin Wunder machte sich zur gleichen Zeit tatsächlich Gedanken um ihren Assistenten. Sie saß im Büro an ihrem Schreibtisch, stand gerade auf und ging zum Fenster. Und wenn man genau hinschaute, konnte man eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn entdecken.
Den Fensterblick liebte sie, sie hatte das Gefühl, dass der Blick in die Ferne, hinauf zum Neroberg, ihre Gedanken freier machte. Sie fragte sich, ob die Empfehlung ihres Vaters dem Kollegen Spyridakis geholfen hatte? Ihr Nachdenken fand ein jähes Ende, denn die Tür hinter ihr wurde aufgerissen, und Kriminalrat Feuer enterte das Zimmer.
„Guten Tag, Frau Wunder!“, rief er.
Sie drehte sich herum und erwiderte seinen Gruß.
„Sie machen ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter“, rief Robert Feuer gutgelaunt.
„Ich habe nur nachgedacht“, erklärte Julia.
„Nachdenken ist immer gut. Wer nachdenkt, wird klüger. Haben Sie heute schon den Wiesbadener Kurier gelesen?“
„Noch nicht.“
„Ich möchte Ihnen eine Lektüre empfehlen, einen Artikel für Zeitgenossen, die wir ja alle sind.“
„Ah ja“, murmelte Julia, und das wirkte ziemlich uninteressiert.
„Sie sollten sich ihn zur Brust nehmen“, teilte Feuer mit, um sich gleich zu korrigieren, „ich meine natürlich, Sie sollten sich ihn vor Augen führen …“
„Worum geht es denn?“
„Es geht um die Aufgewachten, haben Sie von denen schon gehört?“
Julia Wunder ging zu ihrem Schreibtisch. Während sie sich setzte, teilte sie mit: „Ich muss gestehen, nein.“
„Oh“, sagte Feuer und nahm ihr gegenüber auf Vlassis Stuhl Platz, um gleich fortzufahren: „Da ist Ihnen was entgangen. Das sollten Sie nachholen.“
„Handelt es sich um Kriminelle?“, wollte Julia wissen.
„Nein, nein“, wehrte Feuer ab, „wir haben mit denen nichts zu tun. Fernab von unserer Welt sind die. Aber Lesen bildet. Man sollte sich auch für Dinge interessieren, die etwas außerhalb der beruflichen Tätigkeit liegen.“
Julia nickte: „Werd’ ich machen.“ Und sie fügte mit leichtem Grinsen hinzu: „Sie wissen doch, dass mir Ihr Wunsch Befehl ist.“
Feuer fiel plötzlich etwas ein: „Sagen Sie mal, wo ist eigentlich Spyridakis, dieser unselige Kollege? Geht er immer noch spazieren, wie ich es ihm