Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen. Annabel Herzog

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Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen - Annabel Herzog

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2005), 26-60 % bei Fibromyalgie (Arnold 2008), 44 % beim Reizdarmsyndrom (Folks 2004).

      Interessanterweise findet sich eine psychische Komorbidität bei den funktionellen Syndromen insgesamt häufiger als bei vergleichbaren somatisch definierten Erkrankungen (z. B. Fibromyalgie vs. rheumatoide Arthritis, Reizdarm vs. Morbus Crohn / Colitis ulcerosa; Arnold 2008; Henningsen et al. 2003; Henningsen et al. 2007). Bezüglich der eingeschränkten Funktionalität im Alltag sowie der niedrigeren Lebensqualität sind die Gruppen jedoch gleichermaßen betroffen (Joustra et al. 2015).

      Die Komorbidität einzelner funktioneller Syndrome untereinander, d. h. das gleichzeitige Erfüllen der Kriterien mehrerer Einzelsyndrome, ist mit ca. 50 % (10-80 %) ebenfalls als hoch anzusehen. Die Zahlen sind stark von den jeweiligen Syndromdefinitionen und Patientenstichproben abhängig, aber auch in Bevölkerungsstichproben nachweisbar.

      2.2.3 Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen

      Die Frage nach somatischen Komorbiditäten erhält im Zusammenhang mit den DSM-5- und ICD-11-Diagnosen der somatischen Belastungsstörung, bei der die Ätiologie der Körperbeschwerden für die Diagnosestellung keine Rolle mehr spielt, eine neue Wichtigkeit.

      somatoforme Störungen als „Ausschlussdiagnosen“

      Die somatoformen Störungen nach DSM-IV und ICD-10 wurden als „Ausschlussdiagnosen“ angesehen, d. h., eine vorliegende organische Erkrankung schließt die Diagnose einer somatoformen Störung mehr oder weniger aus, zumindest wenn dieselben oder ähnliche Beschwerden im Vordergrund stehen. Ein wesentliches Merkmal der somatoformen Störungen sind unklare körperliche Beschwerden, wobei „unklar“ bedeutet, dass durch medizinische Untersuchungen keine körperliche Ursache festgestellt werden konnte, die das Ausmaß der Beschwerden ausreichend erklärt. Von einer klaren Dichotomie „organisch“ versus „nichtorganisch bedingt“ kann jedoch auch hier nicht ausgegangen werden, da auch bei den somatoformen Störungen nach DSM-IV oder ICD-10 die betreffenden Symptome organisch mitverursacht sein können. Nach der ICD-10 sind Symptome z. B. auch dann als „somatoform“ zu werten, wenn die zugrunde liegende körperliche Erkrankung nicht die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundenen sozialen Einschränkungen erklären kann (Kleinstäuber et al., 2016).

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      Beispiel für eine somatoforme Symptomatik mit somatischen und psychischen Faktoren

      Die Patientin beschreibt einen seit etwa 20 Jahren bestehenden und stark ausgeprägten „Ganzkörperschmerz“. Vorbeschrieben sind diagnostisch eine zervikale Stenose mit Zervikalsyndrom (Einengung des Wirbelkanals im Halsbereich, die mit Beschwerden einhergeht) und eine chronische Lumbago (chronische Schmerzen im unteren Rücken). Es bestehen diverse psychosoziale Belastungsfaktoren (Tod des Vaters, Eheprobleme) sowie biografisch belastende Lebensereignisse. Die Stimmungslage der Patientin ist gedrückt, sie fokussiert stark auf die Schmerzen und orientiert ihren Alltag daran. Bisherige orthopädische und physiotherapeutische Behandlungen waren wenig entlastend.

      Die angemessene organmedizinische Abklärung der Symptomatik ist dabei Aufgabe des Haus- oder Facharztes. Da die Interpretation medizinischer Befunde vom Fachwissen, der Erfahrung und der Einschätzung und Interpretation der Ärztinnen und Ärzte abhängig ist und sich zudem das medizinische Wissen durch neue Forschungsergebnisse ständig aktualisiert und erweitert, ist die Unterscheidung „organisch bedingter“ versus „nicht organisch bedingter“ Körperbeschwerden tatsächlich nur schwer zu treffen (Kap. 5). Darüber hinaus wurde im Zusammenhang mit der Diagnosekategorie der somatoformen Störungen immer wieder bemängelt, dass eine klare Trennung zwischen „körperlich“ und „psychisch“ auch angesichts der schwachen Zusammenhänge zwischen pathophysiologischen Veränderungen und subjektiven Beschwerden wenig haltbar ist (Mayou et al. 2005).

      In den aktuellen Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-11 wurde mit der Diagnose der somatischen Belastungsstörung diese Dichotomie entsprechend verlassen; die Ätiologie der Körpersymptome spielt nun für die Diagnosestellung keine Rolle mehr.

      somatische Erklärbarkeit nicht mehr relevant

      In Fällen, bei denen Patientinnen und Patienten mit einer somatisch definierten Diagnose auch die Kriterien für eine somatische Belastungsstörung erfüllen, können beide Erkrankungen parallel diagnostiziert werden (APA 2013). Der Schlüssel zur Entscheidung, ob bei einem Patienten oder einer Patientin mit einer definierten somatischen Erkrankung auch eine somatische Belastungsstörung vorliegt, liegt in der Feststellung, ob die kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen auf die medizinische Erkrankung bzw. die damit assoziierten Symptome im Vergleich zu den meisten anderen Patientinnen und Patienten mit dieser medizinischen Erkrankung übertrieben, übermäßig oder dysfunktional erscheinen.

      Relevanz psychischer Reaktionen auf Symptome

      Funktionseinschränkungen (z. B. zwischenmenschliche, berufliche und körperliche Beeinträchtigungen) sind bei Patientinnen und Patienten mit einer medizinischen Erkrankung und zusätzlich vorliegender somatischer Belastungsstörung in der Regel größer als bei Patientinnen und Patienten, bei denen alleine die medizinische Erkrankung vorliegt (Levenson et al. 2018).

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      Beispiel für eine somatische Belastungsstörung bei organmedizinischer Komorbidität

      Bei der Patientin (43 J.) wurde vor drei Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Sie wurde leitliniengerecht durch eine Operation, Strahlen- und Chemotherapie behandelt und befindet sich aktuell in einer antihormonellen Anschlusstherapie mit einem Aromatasehemmer. Dabei beklagt sie Gelenkschmerzen, die Nebenwirkungen dieser Medikation sein könnten, aber auch andere Körperbeschwerden wie starke Kopfschmerzen. Gleichzeitig hat sie große Sorge bezüglich einer Wiedererkrankung. Die Krankheitsängste sind nahezu immer vorhanden und belasten ihren Alltag.

      Bezüglich der somatischen Komorbidität bei somatischen Belastungsstörungen lassen sich bisher keine gesicherten Angaben machen. Da die Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 erst 2013 bzw. 2018 veröffentlicht wurden, gibt es bisher noch keine ausreichende Datenbasis für die Schätzung von Komorbiditätsraten. Aus dem Bereich der somatoformen Störungen lassen sich Ergebnisse nur schwer übertragen, weil diese noch auf dem Prinzip der „Ausschlussdiagnostik“ organischer Erkrankungen beruhen.

      Es sei an dieser Stelle außerdem angemerkt, dass die Zuverlässigkeit der von Patientinnen und Patienten selbst angegeben Diagnosen bezogen auf ihre aktuellen Beschwerden wie auch von Erkrankungen in der Vorgeschichte kaum untersucht ist.

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      Einer ersten kleineren Studie mit Patientinnen und Patienten aus der Neurologie zufolge, konnten nur 22 % der angegebenen früheren Vorerkrankungen bestätigt werden, wenn die Patienten an „unerklärten Beschwerden“ litten, aber 80 %, wenn die Beschwerden tatsächlich organmedizinisch erklärt werden konnten (Schrag et al. 2004).

      Möglicherweise sind also eigenanamnestische Angaben von Patientinnen und Patienten mit „unerklärten Körperbeschwerden“ eher unpräzise.

      körperliche und psychische Belastungen erfragen

      Die aktuelle AWMF-Leitlinie zum Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018) empfehlen Behandlerinnen und Behandlern daher, während der Anamnese immer auch gegenüber versteckten Hinweisen auf körperlich oder psychisch wirkende Belastungen

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