Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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als einen komplexen Abwehrvorgang verstehen, in dem der psychophysische Organismus versucht, einen eingedrungenen Fremdkörper bzw. eingedrungene Mikroorganismen entweder zu vernichten und auszuscheiden oder aber zu assimilieren. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, mit dem „Trauma“ als nicht assimilierbarem innerem „Fremdkörper“ weiter zu leben – eine Situation, die für Phase 3 im Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung, den traumatischen Prozess charakteristisch ist. Diese somatischen Metaphern können den Überblick über das komplexe psychophysische Traumageschehen erleichtern.

      Einige Charakteristika der postexpositorischen → traumatischen Reaktion lassen sich aus den Überlegungen des vorigen Abschnitts ableiten. Die traumatische Erfahrung hat zu Ausnahmezuständen geführt, die von der Normalverfassung des Subjekts abgespalten oder dissoziiert sind. Diese können auch in der Einwirkungsphase fortbestehen. Solche Ausnahmezustände wurden in der Geschichte der Psychotraumatologie bisweilen als „hypnoid“ (schlafähnlich) oder tranceartig bezeichnet. In diesen werden Bruchstücke der traumatischen Erfahrung wiedererlebt. Piérre Janet sah dissoziierte Erlebniszustände oder Stimmungslagen als zentrale Traumafolge an (van der Kolk et al. 1989), während Freud sich später von der Zustandstheorie der Traumafolgen abwandte und sich der Ausarbeitung seiner Abwehrlehre widmete. Beide Zugangsweisen erscheinen aber nicht unvereinbar. Ein Pionier der Traumaforschung, dem es gelingt, die Abwehrlehre und Zustandstheorie miteinander zu verbinden, ist der nordamerikanische Psychoanalytiker Mardi Horowitz, dessen Konzept der traumatischen Reaktion im Folgenden dargestellt wird.

      Nach Horowitz durchläuft die post-expositorische Reaktion mehrere Phasen, die jeweils nach einer normalen und einer pathologischen Variante unterschieden werden können. Die normale Reaktion bezeichnet Horowitz als „stress response“, die pathologische Variante stellt die traumatische Reaktion im engeren Sinne dar:

      1.Die peri-traumatische Expositionsphase. Die normale Antwort sind Aufschrei, Angst, Trauer und Wutreaktionen. Der pathologische → Erlebniszustand ist gekennzeichnet durch Überflutung von den überwältigenden Eindrücken. Die betroffene Persönlichkeit wird von der unmittelbaren emotionalen Reaktion überschwemmt und befindet sich manchmal noch lange Zeit über in einem Zustand von Panik bzw. Erschöpfung, der aus den eskalierenden emotionalen Reaktionen entsteht.

      2.Verleugnungsphase (bzw. -zustand). Die Betroffenen wehren sich gegen Erinnerungen an die traumatische Situation. Pathologische Variante: Extremes Vermeidungsverhalten, evtl. unterstützt durch Gebrauch von Drogen und Medikamenten, um den seelischen Schmerz nicht erleben zu müssen.

      3.Phase (bzw. Zustand): Eindringen von Gedanken oder Erinnerungsbildern. Pathologische Variante: Erlebniszustände mit ständig sich aufdrängenden Gedanken und Erinnerungsbildern vom Trauma (intrusive Phänomene des PTBS).

      4.Phase bzw. Erlebniszustand: Durcharbeiten. Hier setzen sich die Betroffenen mit den traumatischen Ereignissen und ihrer persönlichen Reaktion auseinander.

      5.Relativer Abschluss (completion). Ein Kriterium ist die Fähigkeit, die traumatische Situation in ihren wichtigsten Bestandteilen erinnern zu können, ohne zwanghaft daran denken zu müssen.

      Die pathologischen Varianten zu den Phasen 4 und 5 sind „frozen states“: erstarrte Zustände mit psychosomatischen Symptomen, wie körperlichen Missempfindungen verschiedener Art und Verlust der Hoffnung, die traumatische Erfahrung durcharbeiten und abschließen zu können; ferner Charakterveränderungen als Versuch, mit der subjektiv nicht zu bewältigenden traumatischen Erfahrung zu leben. Ausgedehnte Vermeidungshaltungen gehen mit der Zeit in phobische Charakterzüge über. Als ein allgemeines Merkmal traumabedingter Charakterveränderung kann die Störung von Arbeits- und Liebesfähigkeit angesehen werden.

      Die bahnbrechende Arbeit von Horowitz zur Stress- und Traumatheorie „Stress response syndroms“ erschien zum ersten Mal im Jahre 1976. Sie kann als eine Pionierarbeit gelten, die dazu beigetragen hat, dass psychotraumatologische Syndrome wie die PTSD in das diagnostische Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft Eingang fanden. Die Psychotraumatologie verdankt Horowitz zudem die Entdeckung des biphasischen Charakters der traumatischen Reaktion als eines zentralen psychobiologischen Verarbeitungsmechanismus.

      Es handelt sich um den regelhaft wiederkehrenden Wechsel von Intrusion (Eindringen) und Verleugnung der traumatischen Erinnerungsbilder. Dieser zweiphasische Charakter der traumatischen Reaktion steht nach Horowitz im Dienste einer Tendenz zur Erledigung unvollendeter Handlungen (completion tendency, → Vollendungstendenz), die in der Psychologie auch experimentell untersucht wurde. Ein Beispiel sind die Experimente zum so genannten „Zeigarnik-Effekt“. Zeigarnik konnte zeigen, dass künstlich unterbrochene Handlungen bevorzugt wieder aufgenommen werden, sobald die Versuchspersonen Gelegenheit dazu finden. Begriffe, die mit diesen unerledigten Handlungen assoziiert waren, wurden in einem Gedächtnistest weit häufiger erinnert als solche aus anderen Assoziationsfeldern.

      Die „completion tendency“ als Tendenz zur Wiederaufnahme und Vollendung unterbrochener Handlungen hat in der Wahrnehmungspsychologie eine Entsprechung in der Tendenz zur „guten Gestalt“. Auch der von Freud beschriebene „Wiederholungszwang“ folgt in seinem positiven, zukunftsgerichteten Aspekt der → Vollendungstendenz und lässt sich als Versuch verstehen, unbewältigte lebensgeschichtliche Erfahrungen zu einem Abschluss, einer relativen Vollendung zu bringen. Nach Piaget folgen die sensomotorischen Schemata einer Tendenz zur Selbstbetätigung durch Wiederholung, die er als Tendenz zur „reproduzierenden Assimilation“ bezeichnet. Vom Situationskreismodell her ist anzunehmen, dass immer neue Zyklen der hypothetischen Bedeutungsunterstellung und Bedeutungserprobung durchlaufen werden, um den unassimilierbaren Fremdkörper, den die traumatische Erfahrung bildet, in den semantischen Deutungsbestand oder das schematische Wissen der Persönlichkeit integrieren zu können.

      Da die traumatische Erfahrung auf einem vital bedeutsamen Diskrepanzerlebnis beruht, kann sie vom psychischen System nicht auf Dauer ignoriert und gewissermaßen beiseite geschoben werden. Die Verleugnungsversuche des „denial state of mind“ sind langfristig zum Scheitern verurteilt.

      Horowitz nimmt an, dass vital bedeutsame unerledigte Handlungen vom Typus des Traumas in einer Art Arbeitsgedächtnis (working memory) gespeichert werden, das gegenüber den alltäglichen Agenda und deren kognitiver Verarbeitung eine „Vorzugsschaltung“ genießt. Sobald die äußeren Verhältnisse und die kognitive Kapazität dies gestatten, dringen die Agenda des „working memory“ in die Bewusstseinssphäre, gleichsam in den „Arbeitsspeicher“ des psychischen Systems vor. Dabei handelt es sich um einen dynamischen, konflikthaften Vorgang mit instabilem Gleichgewicht. Personen beispielsweise, deren Traumaverarbeitungsprozess im Erlebniszustand der Verleugnung und Vermeidung fixiert ist, müssen mit der Zeit zu immer stärkeren Mitteln greifen, um den Eintritt der traumatischen Agenda in die Bewusstseinssphäre zu verhindern. Der Traumaverarbeitungsprozess ist hier pathologisch entgleist. Im günstigen Falle aber können im biphasischen Wechsel von Verleugnung und Intrusion die Agenda des „working memory“ schrittweise aufgearbeitet werden. Die (kognitiv-emotionalen) Schemata des bisherigen Selbst- und Weltverständnisses müssen dabei in einem oft langwierigen Prozess so lange modifiziert werden, bis die traumatische Erfahrung in den überdauernden schematischen Wissensbestand der Persönlichkeit integriert ist und der Verarbeitungszyklus zu einem relativen Abschluss kommt.

      Abbildung 5 gibt eine Übersicht über den Zyklus der Traumaverarbeitung im post-expositorischen Zeitraum. Die Quadranten I bis IV entsprechen den Phasen der traumatischen Reaktion bzw. den zeitlich überdauernden Erlebniszuständen, die bei einer Fixierung dieser Phasen zu erwarten sind. Wir beginnen von links mit Quadrant I. Dieser entspricht der peritraumatischen Erlebnissituation mit Aufschrei bzw. Reizüberflutung. Hier setzt ein erster Abwehrversuch ein mit dem Ziel, die überschießenden Affekte zu kontrollieren oder zu modulieren. Dieser leitet über zur Vermeidungs- bzw. Verleugnungsphase (Quadrant II). Wird diese Phase fixiert, so kommt es zu Gefühlsabstumpfung (→ numbing) oder einer allgemeinen Erstarrung

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