Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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die reale Flucht nicht möglich ist und/oder aktives Kampfverhalten sich als wirkungslos erweist. Die amnestischen Phänomene kann man zum Teil als Abwehr verstehen, die der Selbsterhaltung des psychobiologischen Systems dienen soll.

      Depersonalisationserlebnisse, die wir auch als „Selbstverdopplung“ des Subjekts betrachten können, stellen ebenfalls einen solchen → Selbstschutzmechanismus dar. Das personale Erlebniszentrum trennt sich vom empirischen Selbst und schaut der bedrohlichen Szene von außen, oft schwebenderweise von oben zu. Folteropfer z. B., die über solche dissoziativen Fähigkeiten verfügen, sind gegenüber der unerträglichen traumatischen Situation möglicherweise besser geschützt als andere, denen diese Fähigkeit nicht zur Verfügung steht.

      Bislang ist nicht eindeutig geklärt, ob dissoziative Fähigkeiten angeboren sind oder frühkindlich erworben werden. Die erwähnte positive Korrelation zwischen hohen Werten im PDEQ und späterem PTBS muss nicht dahin interpretiert werden, dass Personen mit hohen dissoziativen Fähigkeiten einem stärkeren PTBS-Risiko ausgesetzt sind. Es kann auch ein gemeinsamer Situationsfaktor zugrunde liegen, der sowohl peritraumatische → Dissoziation fördert wie auch das Folgesyndrom. Für die Verwandlung von Erinnerungen an die traumatische Situation in schematisiertes Wissen allerdings stellen dissoziative Tendenzen vermutlich ein besonderes Problem dar. Hier kann es leicht zur Bildung dissoziierter, fragmentierter Schemata kommen, die ein abgespaltenes Dasein im Gedächtnis führen und sich den Koordinationsregeln entziehen, die sonst den verfügbaren Wissensbestand der Persönlichkeit leiten.

      Abbildung 4 zeigt das peritraumatische Erleben im Modell des Situationskreises. Bei den traumatisch bedingten Veränderungen der effektorischen Sphäre sind Leerlaufhandeln und Pseudohandeln zu erwähnen, Handlungstendenzen, die zwar nicht mehr effektiv eine Problemlösung herbeiführen können, dennoch aber für die psychische Befindlichkeit des Individuums von großer Bedeutung sind. Wir kommen auf diesen Punkt zurück. Ein zweiter Handlungszyklus setzt sich nun gewissermaßen durch den Realitätsfaktor hindurch in der Phantasie fort, im Diagramm durch die gestrichelte Fortführung des Kreissegmentes angedeutet. Hier haben wir jene Veränderungen des Selbst- und Realitätserlebens angeführt, die in der Selbstverdopplung des Subjekts (dargestellt in S2) zu einer phantasierten Existenz als außenstehender Beobachter führen. Depersonalisierung und Derealisierung betreffen das Merken des Merkens und das Merken des Wirkens. Auf dieser metakognitiven Ebene des Situationskreises greifen Depersonalisierung und Derealisierung an, indem sie die sensorische Reafferenz zur effektorischen bzw. rezeptorischen Sphäre unterbrechen. Reafferente sensorische Bahnen informieren das Gehirn über den Zustand der effektorischen Sphäre. Wird in der Derealisierung die motorische Reafferenz unterbrochen und das pragmatische Realitätsprinzip außer Kraft gesetzt, so unterbricht in der Depersonalisierungstendenz das Merken des Merkens und mündet ein in eine Selbstverdopplung des Subjekts im Sinne eines Selbstrettungsversuches.

      Im Außenbereich des Diagramms sind rechts die traumatogenen Umgebungsfaktoren eingetragen, die sich ungehindert in das innere Zentrum des Situationskreises fortsetzen können und die Integrität des Selbst bedrohen. Hier ist der Ort der objektiven Situationsfaktoren, während auf der linken Seite der Subjektpol, die Innenperspektive des traumatisch verzerrten Situationskreises angegeben ist.

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      Erklärung zu Abb. 4: Das Schaubild stellt die wichtigsten Abwandlungen des Situationskreismodells dar, wie sie durch die psychotraumatische Erfahrung hervorgerufen werden. Das Diagramm ist vom inneren Zirkel her nach außen hin zu lesen. Zwischen U1 und S1 (für Subjekt 1 und Umgebungsfaktor 1) spielt sich der erste Zyklus ab. Die bedrohlichen Umgebungsfaktoren kommen auf das Subjekt zu in einer Weise, die dessen Deutungsschemata und Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Im Inneren des Zirkels ist das Versagen der Bedeutungserteilung angedeutet. Die erste effektorische Handlungsbereitschaft dürfte das Kampfverhalten sein als Versuch, sich zur Wehr zu setzen und die bedrohliche Umweltkonstellation fernzuhalten. Das „Versagen“ der effektorischen Sphäre haben wir im Diagramm dadurch angedeutet, dass der Pfeil am Umgebungsfaktor gewissermaßen ins Leere zielt. So kann ungehindert der traumatogene Umgebungseinfluss mit U2 fortgesetzt werden. Hier wirkt sich nun die Fähigkeit zum Probehandeln in der Phantasie dahin aus, dass es zu den beschriebenen Veränderungen der Wahrnehmung kommt, wie z. B. zur Tunnelsicht, die wir hypothetisch als Ausdruck der Fluchttendenz in der Wahrnehmung verstanden hatten. Ein zweiter effektorischer „Durchgang“ durch den Situationskreis nach der gescheiterten Kampftendenz dürfte zunächst Flucht, dann ev. Erstarrung sein. Die Handlungstendenz scheitert an der Realität und wird auf sich zurückgeworfen, was wir über den in sich rückläufigen Handlungspfeil symbolisieren.

      Abbildung 4: Traumatische Erfahrung im Modell des Situationskreises

      Das Situationskreismodell kann uns dem psychobiologischen Sinn, der „Teleologie“ der peritraumatischen Erfahrung näherbringen und eröffnet der Forschung so fruchtbare Wege. Dabei sind in der effektorischen Sphäre die angedeuteten Leerlaufhandlungen von besonderem Interesse. Wenn der Situationskreis unser psychophysisches Weltverhältnis korrekt beschreibt, dann können wir davon ausgehen, dass das Grundprinzip „Problemlösung durch Koordination von Sensorik und Motorik“ auch unter extremen psychotraumatischen Belastungen erhalten bleibt. Phantasmatisches Abwehrverhalten, Pseudohandeln oder Leerlaufhandlungen lassen sich unter diesen Bedingungen als biologisch sinnvoll verstehen. Tiere, die unter extrem beengten Verhältnissen gehalten werden, entwickeln stereotype Verhaltensabläufe, die an Leerlaufhandlungen oder an Rituale erinnern.

      Kognitive Schemata sind über die motorische Komponente mit bestimmten organspezifischen Funktionskreisen gekoppelt. Gespaltene, in sich widersprüchliche Schemata gehen mit einer dysfunktionalen Aktivierung der zugeordneten biologischen Funktionskreise einher. So ließe sich hypothetisch etwa die gleichzeitige und gleichstarke Aktivierung von Kampf- und Fluchttendenzen als gegenseitige Blockierung verstehen, die wiederum zur katatonoiden Bewegungsstarre führt, wie sie Max Stern (1988) neben dem blinden Bewegungssturm als eine der beiden basalen Traumareaktionen beschreibt.

      2.2.1 Pathogenese des psychischen Traumas

      Als „pathogenetisch“ verstehen wir solche Mechanismen und Rückkopplungskreise, die ein Störungsbild verfestigen bzw. aufrechterhalten. Diese

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