Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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die das Schema intern reorganisiert, bezeichnen wir mit Piaget als Akkommodation. Ist sie erfolgreich, so kann die Umweltsituation wieder problemlos assimiliert werden. Die Akkommodation führt so zu einer neuen Assimilation, die Anpassung zur gelingenden „Einpassung“ (von Uexküll und Wesiack) des Organismus bzw. des Individuums in seine Umwelt, in eine → „ökologische Nische“.

      Der Schemabegriff. Die inneren Strukturen oder Systeme, die im Situationskreis die Feinabstimmung zwischen Individuum und Umwelt leisten, können wir als rezeptorisch-effektorische Schemata bezeichnen, oder auch mit Jean Piaget als sensorisch-motorische Schemata (kurz sensomotorische Schemata). Piaget beruft sich mit diesem Konzept wiederholt auf die biologischen Arbeiten Jacob von Uexkülls. Thure von Uexküll und Wesiack beziehen ihrerseits Piagets Schemakonzept in das Modell vom Situationskreis ein. Auch in der modernen kognitiven Psychologie hat sich das Schemakonzept als ein zentrales heuristisches Instrument zur Untersuchung kognitiver Strukturen und Funktionen bewährt (z. B. Neisser 1967, 1976). Der Kern des Schemakonzepts ist hier – wie auch im Funktions- bzw. Situationskreis – das Zusammenspiel von rezeptorischer und effektorischer Sphäre, von Wahrnehmung und Handlung.

      Piaget hat gezeigt, dass die Organisation der Orientierungsschemata im Laufe der menschlichen Entwicklung eine strukturelle Stufenfolge durchläuft. Grundlage bleibt die sensomotorische Stufe der Intelligenzentwicklung, also die im Situationskreis modellierte Koordination von rezeptorischer und effektorischer Sphäre. In der Entwicklungsphase der sensomotorischen Intelligenz (0-18 Monate) besteht die wesentliche Leistung darin, Handlung und Wahrnehmung immer genauer zu koordinieren. Mit etwa 1 1/2 Jahren, im Übergang zum symbolisch vorbegrifflichen Denken (bis 4. Lebensjahr) ereignet sich, was Piaget die kopernikanische Revolution der Intelligenzentwicklung nennt: Symbol und Vorstellungsbild verselbständigen sich bis zu einem gewissen Grade gegenüber den bis dahin eingespielten Kreisläufen der Wahrnehmungs- und Handlungskoordination. Hier tritt – mit anderen Worten – das Kind in die Welt spezifisch menschlicher Bedeutungsverarbeitung ein. Allem Anschein nach ist dieser Zugang zur menschlichen Symbolwelt, die Ablösung aus dem „symbiotischen Funktionskreis“ (von Uexküll und Wesiack 1988, 341) mit emotionalen Krisen verbunden. Das Kind löst sich aus der Unmittelbarkeit der sinnlichen Erscheinungen und gewinnt einen ersten Zugang zur Sphäre der Symbole. Es handelt sich um den gleichen Entwicklungszeitraum, den Margaret Mahler (Mahler et al. 1975) als Separations-Individuationsphase beschreibt.

      Gegen Ende des ersten Lebensjahres bildet sich die „Gegenstandspermanenz“, die Fähigkeit des Kindes, eine Vorstellung auch von verdeckten oder verschwundenen Gegenständen innerlich festzuhalten und obgleich sie unsichtbar sind, weiter nach ihnen zu suchen. Von der Gegenstandspermanenz zu unterscheiden ist die sog. „Objektkonstanz“ oder „Beziehungskonstanz“ (Fischer 1987, 300), die Fähigkeit, eine konstante innere Repräsentanz des Liebesobjekts auch in Abwesenheit oder emotionalen Belastungssituationen aufrechtzuerhalten.

      Die „Beziehungsschemata“ (s. u.) des Kindes haben hier ein neues Niveau der Selbstregulation und Autonomie erreicht, das für die weitere psychische Entwicklung von großer Bedeutung ist. Die Ablösung des Denkens, der kognitiven Schemata von der sinnlichen Unmittelbarkeit durchläuft noch folgende unterscheidbare Stufen: Das anschauungsgebundene Denken von 4-7 Jahren; die konkreten Denkoperationen von 7–12 und die formalen Operationen ab 12 Jahren. Erst im Stadium der formalen Operationen können, wie schon in Abschnitt 1.2 ausgeführt, psychische Abläufe kognitiv repräsentiert werden und damit auch Traumata als „seelische Verletzungen“. Im Bereich des logischen Denkens können Kinder „Hypothesen über Hypothesen“, also Hypothesen zweiter Stufe bilden und sich in ihren Denkoperationen auf „geistige Inhalte“, auf Hypothesen erster Stufe beziehen. Damit werden jene reflexiven und selbstreflexiven Fähigkeiten des Menschen voll ausgebildet, die wir im Modell des Funktions- bzw. Situationskreises als „Merken des Merkens“ und als „Merken des Wirkens“ bezeichnen können. Unser Wahrnehmen wahrzunehmen oder unsere Denkprozesse zu beobachten, setzt Fähigkeiten voraus, die in diesem Stadium erworben werden. Basseches (1980) konnte nachweisen, dass auf das Stadium der formalen Operationen noch eine weitere Stufe der kognitiven Entwicklung folgt, die wir als Stadium der dialektischen Operationen bezeichnen. → Dialektisches Denken ist in besonderem Maße ein integratives Denken, das Widersprüche analysiert und sie „aufhebt“ durch Bildung übergeordneter Konzepte. Ansätze der dialektischen Operationen und zu einer Kompetenz in dialektischem Denken finden sich natürlich schon in früheren Stadien der kognitiven und emotionalen Entwicklung, vor allem an den Übergängen zwischen den Entwicklungsstufen. Das Bestreben, widersprüchliche, dissoziierte Schemata zu integrieren, ist der Motor für die Entwicklung eines in sich kohärenten Selbstsystems, das wir mit Bezug auf die integrierende Instanz als → Ich-Selbstsystem bezeichnen wollen. Dialektisches, integrierendes Denken, Aufarbeiten widersprüchlicher oder in sich gespaltener Schemata ist die Voraussetzung dafür, dass die Person situationsübergreifende „Metaschemata“ ausbilden kann, welche die situationsspezifischen Schemata koordinieren, um die Kontinuität des Handelns in der Lebensgeschichte zu gewährleisten. Durch traumatische Erfahrungen kann besonders diese interne Koordination der Schemata über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg beeinträchtigt werden. Traumatische Situationserfahrungen sind in den verfügbaren Schemavorrat nur schwer oder manchmal auch nicht integrierbar. So können schon erreichte Koordinationsstufen, wie die Beziehungskonstanz, regressiv wieder verlassen werden, so dass sich einzelne, in sich gespaltene Teilschemata und Erlebniszustände verselbständigen. Zudem erschwert die traumatische Umwelterfahrung jene Koordination, Überarbeitung und reflexive Umkehr des schematischen Wissensbestands, die für den Übergang zu höheren Stufen der kognitiv-emotionalen Entwicklung notwendig ist.

      Schematisiertes, intelligentes Wissen, das der Mensch im Laufe seiner Lebensgeschichte erwirbt, ist hinsichtlich sozialer und gegenstandsbezogener Komponenten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird oft nicht mit der wünschenswerten Klarheit vorgenommen. Jene Strukturen, die sozial-emotionale Wissensbestände regeln, bezeichnen wir als Beziehungsschemata. Kognitive Schemata, die in erster Linie sachbezogene Wissensbestände koordinieren, hingegen als Gegenstandsschemata. Manchmal wird hier auch die Unterscheidung zwischen kognitiven versus sozialkognitiven Schemata vorgeschlagen, die jedoch in mancher Hinsicht problematisch ist. Beziehungsschemata sind nicht nur kognitiver Art, sie sind vielmehr besonders eng mit Emotionen, Affekten, Triebwünschen und Stimmungslagen verbunden. Sie entsprechen weitgehend dem, was in der Psychoanalyse als Beziehung zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen bezeichnet wird (Fischer 1996, 67 passim). Im Einzelnen umfassen sie Bilder oder Konzepte vom Selbst, dem Anderen oder Beziehungspartner, sowie eine Regel für deren gegenseitiges Beziehungsverhalten in umschriebenen Interaktionssituationen. Beziehungsschemata können situationsspezifisch oder stärker generalisiert sein. In den stärker verallgemeinerten Beziehungsschemata, die wiederum sehr viele situationsspezifische koordinieren, bezeichnen wir das koordinierende Regelsystem als Script (vgl. Abschnitt 2.1; ferner Horowitz 1991; Singer und Salovey 1991; Stinzen und Palmer 1991). „Traumatische Erfahrungen“, die in den Gesamtbestand der Beziehungsschemata und ihre Koordinationsregeln nicht aufgenommen werden können, führen zu aufgespaltenen, dissoziierten Schemata und in sich widersprüchlichen „Koordinationsregeln“ oder Scripts.

      Zur Bezeichnung für die regulativen Strukturen unseres Wissensbestandes, die sich auf den sachlich-gegenständlichen Umweltbereich beziehen, schlagen wir den Terminus Sachschemata oder Gegenstandsschemata vor. Der wesentliche interne Unterschied zwischen Sach- und Beziehungsschema ist das Kriterium der sozialen „Wechselseitigkeit“ (Fischer 1981). Beziehungsschemata bauen auf der sozialkognitiven Struktur einer Perspektivenhierarchie auf, auf der Annahme, dass der andere mich und mein Weltverhältnis ebenso antizipieren kann wie ich das seine, was im Umgang mit Sachobjekten natürlich nicht der Fall ist. Die meisten alltäglichen Interaktionssituationen erfordern allerdings den koordinierten Einsatz von Sach- und Beziehungsschemata, das Zusammenspiel von „interpersoneller und gegenständlicher Orientierung in der sozialen Interaktion“ (Fischer 1981). Auch viele entwicklungspsychologische Stadien und Stufenübergänge lassen sich aus der Koordination von gegenständlichen und interpersonellen Schemata begreifen (Fischer,

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