Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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Paradoxien und Widersprüchen der traumatischen Erfahrung und dem Versuch der betroffenen Persönlichkeit zur „Aufhebung“ dieser Widersprüche (im dreifachen dialektischen Sinne von tollere, elevare und conservare = auflösen, emporheben, erhalten) verstehen lässt.

      Das Verlaufsmodell liegt als generative Struktur auch den weiteren Kapiteln im ersten Teil des Lehrbuchs, der Allgemeinen Psychotraumatologie und der differenziellen zugrunde. Daher geben wir im Folgenden einen Überblick über unsere weiteren Ausführungen zur Allgemeinen Psychotraumatologie auf der Grundlage des Modells und seinen zuvor skizzierten Annahmen.

      In Kapitel 2 werden solche Gesichtspunkte behandelt, die sich unmittelbar auf die dynamische Gestalt und die Kernannahmen des Modells beziehen. Wir vertiefen zunächst in Abschnitt 2.1 und 2.2 unser Verständnis von der „traumatischen Situation“. Dabei werden vor allem solche Konzepte berücksichtigt, die ein synthetisches Konzept von Situationen ausgearbeitet haben, wie die phänomenologische Tradition und das Modell des → Situationskreises nach Th. v. Uexküll. Beide Ansätze setzen den „Subjekt- und den Objektpol“ von Situationen zueinander in die Beziehung einer Synthesis. Die traumatische Erfahrung ist demgegenüber u. a. durch eine Aufspaltung und Antithesis dieser beiden Pole bestimmt. Desto interessanter sind als Beschreibungsgrundlage Konzepte, die das „harmonische“, synthetische Zusammenspiel oder ein „Gleichgewicht“ von Subjekt- und Objektpol in alltäglichen Situationen untersuchen. Das phänomenologische Situationsverständnis thematisiert die Alltagserfahrung erwachsener Menschen, dies vor allem in Wahrnehmungsbegriffen. Für das „Situationskreis-Modell“ dagegen ist das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Verhalten, von Sensorik und Motorik der Ausgangspunkt. Beide Zugänge können sich ergänzen und uns helfen, traumatische Situationen möglichst differenziert zu erfassen und zu analysieren.

      Aufbauend auf diesem Situationsverständnis wird in den Abschnitten 2.3 und 2.4 dann die widersprüchliche, paradoxe Erfahrungswelt beschrieben, welche die traumatische Reaktion und den traumatischen Prozess anstößt. So weit der „synthetische Kernbereich“ des Modells, welcher der dynamischen Verlaufsgestaltung traumatischer Erfahrung Rechnung trägt.

      Kapitel 3, die differenzielle Psychotraumatologie, enthält dagegen die analytische (= zerlegende) Darstellung einzelner Teilkomponenten des Modells bzw. der psychischen Traumatisierung. Hier wird die Darstellung vor allem nach einem objektiven, auf Situationsfaktoren und -konstellationen ausgerichteten und einem subjektiven oder genauer subjektorientierten Zugang differenziert. Im objektiven Zugang wird z. B. in Abschnitt 3.1 eine Einteilung der traumatischen Situationsfaktoren nach Intensität, Dauer oder Ereignisdimensionen vorgenommen. Auch Abschnitt 3.1.2 „Situationstypologie im Tierversuch“ ist diesem objektiven Zugang zugeordnet. Hier wird deutlich, dass dieser allerdings immer nur eine erste Annäherung ergibt, denn auch Tierexperimente lassen sich sehr wohl aus der Innenperspektive untersuchen. Wir verstehen das Experiment dann im Bezugsrahmen der artspezifischen Ökologie, als ein vom Versuchsleiter entworfenes Szenario. Nach dieser phänomenologisch- → hermeneutischen Operation der artspezifischen Subjektivierung und Relativierung der Experimentalsituation können eventuelle Analogien zum Menschen gezogen werden.

      Primär durch den subjektorientierten Zugang, die Innenperspektive der traumatischen Erfahrungssituation, ist dann wieder Abschnitt 3.2 bestimmt, der subjektive Organisationsstrukturen oder -funktionen behandelt wie Gedächtnis, Abwehr, psychische Instanzen, Kontrollsysteme der Persönlichkeit, die bei der Verarbeitung der traumatischen Erfahrung wirksam sind, durch sie jedoch auch dauerhaft geschädigt werden können. Auch die folgenden Abschnitte, subjektive Disposition, protektive (schützende) Faktoren, der Erlebnisverlauf in traumatischen Situationen, primäre Abwehrreaktion, die Bewältigungs- und Selbstheilungsversuche im traumatischen Prozess entsprechen einem primär subjektbezogenen Zugang zur traumatischen Erfahrung und werden nur aus der Innenperspektive der traumatischen Situation heraus verständlich.

      Abschnitt 3.3, Differenzieller Verlauf der traumatischen Reaktion und des traumatischen Prozesses, fasst die bis dahin erarbeiteten Gesichtspunkte zusammen in einer Übersicht über traumatische Verlaufsprozesse. Hieran knüpfen die Forschungsstrategien der Psychotraumatologie an (3.4).

      Der synthetische und der analytische Teil der Darstellung verhalten sich komplementär zueinander. Die Psychotraumatologie benötigt eine immer detailliertere Erforschung einzelner Komponenten auf unterschiedlichen Systemebenen, der physikochemischen, physiologischen und psychosozialen (vgl. Das Modell der Systemhierarchie, Abb. 2). Es ist aber in kaum einem Forschungsbereich so bedenklich wie hier, wenn darüber der synthetische Bezug zur traumatischen Erfahrung verloren gehen würde. Die Detailforschung ist zunächst nur insoweit sinnvoll, als sie uns die traumatische Erfahrung und ihre Folgen immer umfassender verständlich macht. Erst aus diesem Verständnis heraus können sich dann neue Behandlungsansätze und -methoden ergeben.

      Der Begriff der „Situation“ hat in Psychologie, Philosophie und Soziologie deshalb Bedeutung gewonnen, weil er sich dazu eignet, objektive und subjektive Faktoren oder, methodologisch gesprochen, den objektiven und subjektiven Zugang zum menschlichen Erleben und Verhalten systematisch aufeinander zu beziehen. Gerade dieser Zwang, Objektivität und Subjektivität in ihrer wechselseitigen Verschränkung und → Dialektik zu sehen, macht den Situationsbegriff für die Psychotraumatologie interessant. Situationen bilden die minimale Beobachtungseinheit in den Sozialwissenschaften, die ohne Verzicht auf entscheidende Sinnbezüge nicht weiter unterschritten werden kann. So können wir als die elementare Beobachtungseinheit der Psychotraumatologie die traumatische Situation definieren. Wir werden uns im Folgenden mit einigen Konzeptualisierungen des Situationsbegriffs in Philosophie, Sozialwissenschaften und Psychologie befassen und uns von hier aus der Struktur traumatischer Situationen nähern.

      Die entscheidende philosophische Vorarbeit zur begrifflichen Fassung von Situationen verdanken wir der phänomenologischen Tradition in Philosophie und Psychologie im Anschluss an die Arbeiten von Edmund Husserl (1969). Die meisten Autoren, die sich systematisch dieses Begriffs bedienen, bemühen sich um eine Thematisierung des Bezugs von Subjektivität und Objektivität, die über die traditionelle Fassung dieser Begriffe als Erkenntnisbegriffe hinausgeht und die realen lebensweltlichen Bedingungen des Handelns und der menschlichen Orientierung umfassen. Die gründliche Ausarbeitung eines Situationsmodells für die Soziologie von Arbeitssituationen verdanken wir Konrad Thomas (1969). Thomas definiert Situation als die „Einheit von Subjekt und Gegebenheit, bestimmbar durch das Thema, umgrenzt von einem Horizont“ (S. 60). Im Unterschied zu Situation, verwendet er den Begriff der „Lage“ für die objektiven, zunächst nur von außen bestimmbaren Faktoren, die in den Situationsbezug des Subjekts zwar eingehen, aber dennoch nicht in ihm aufgehen. In anderen Modellen wird dieser objektive Aspekt auch Umgebung oder Außenwelt genannt, während z. B. im Situationskreismodell nach Thure von Uexküll „Umwelt“ die schon auf das Subjekt bezogene, vom Subjekt erfahrene Umgebung oder Außenwelt bezeichnet. In einer dialektischen Fassung des Situationsbegriffs sind Situationsfaktoren immer schon auf das erlebende und handelnde Subjekt bezogen. D. h. eine → Situationsanalyse erfasst die objektiven Lagebestimmungen in der Perspektive des handelnden und sich orientierenden Subjekts. Das Subjekt andererseits befindet sich in einer Situation, d. h., es ist selbst ein integrativer Bestandteil derselben, nicht ein abgegrenztes Element oder Subsystem, das sich einer Situation „gegenüber“ befindet. Wenn ich also das Verhalten und Erleben eines Subjekts verstehen will, so muss ich es immer „situiert“ (ein Ausdruck, den Sartre häufig verwendet hat) verstehen.

      Ein Irrweg in der Situationsanalyse ist die voreilige Psychologisierung des subjektiven Situationsmoments. Wenn wir z. B. sagen, jemand „fühlt sich traumatisiert“, so bleibt dieses Erleben so lange unverständlich, wie wir es

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