Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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psychotraumatischen Belastungssyndrom litt. Er war ursprünglich vom positiven Zweck des Krieges überzeugt gewesen und sah seinen Einsatz als Verteidigung von unterdrückten und hilflosen Minoritäten. Der Schutz für Schwache und Hilflose zählt zu der persönlichen Werthaltung, die er sich schon früh in der Lebensgeschichte zu eigen gemacht hatte. Mehrfach wurde er Zeuge von Strafexekutionen in Dörfern von Partisanen.

      Eines Tages entdeckte er unter den Exekutierten die Leiche eines vietnamesischen Jungen, mit dem er sich vor einiger Zeit angefreundet hatte. Er wusste, dass der Junge und seine Familie keineswegs „Partisanen“ waren, sondern Sympathisanten der Amerikaner. Dennoch musste er feststellen, dass die Exekution von der amerikanischen Armee durchgeführt worden war. Er verlor den Glauben an die Gerechtigkeit des Krieges, fühlte sich von der Armeeführung getäuscht und musste letztlich auch sich selbst als mitschuldig an der Vernichtung seines jungen Freundes und anderer unschuldiger Zivilisten betrachten. In der späteren Psychotherapie stellte sich die Konfrontation mit der Leiche des befreundeten Jungen als zentrales traumatogenes Erlebnis heraus. Lindy (1993) spricht von „traumaspecific meaning“ und meint damit die subjektive, ganz persönliche Bedeutung, die eine traumatische Situationskonstellation gewinnt. Diese Fallskizze können wir auch in der Begrifflichkeit des ZTST verstehen, wenn wir nämlich annehmen, dass der Schutz von Schwachen und Hilfsbedürftigen eine kompensatorische, ev. sogar traumakompensatorische Funktion für den Veteranen hatte. Jedenfalls war diese Haltung ein zentraler Bestandteil seines Selbstkonzepts gewesen. Sie war auch ein wichtiges Motiv, sich an einem „gerechten“ Krieg zu beteiligen. Nun wurde er selbst zum Mörder seiner Schutzbefohlenen, gerade in Verfolgung seiner durchaus altruistischen Motive. Solch „tragische“ Verwicklungen und eine paradoxe Gegenläufigkeit von Absicht und Handlung entsprechen oft der Struktur des zentralen traumatischen Situationsthemas.

      Im Folgenden wollen wir uns mit einem weiteren situationstheoretischen Konzept befassen, das beim Verständnis der traumatischen Situation hilfreich sein kann, der Singularität versus Generalität von Situationen. In der Literatur findet sich häufig die Bemerkung, dass traumatisierte Personen dazu neigen, ihre Erfahrung und damit die traumatische Situation zu stark zu „generalisieren“, also in unangemessener Weise zu verallgemeinern. In der äußerlichen, objektiven Betrachtungsweise trifft diese Beobachtung ganz offensichtlich zu. Manche Traumapatienten verhalten sich so, als könnte die traumatische Situation sich jederzeit wiederholen. Dies geschieht allerdings auf der Ebene unbewusster Informationsverarbeitung. Herr R. z.B. kann deshalb nicht mehr mit dem Auto fahren, weil er auf der Ebene vorbewusster oder unbewusster → Kognitionen und daran gekoppelter physiologischer Reaktionsmuster die ständige Wiederholung des Unfalls erwartet. Es liegt in der Natur der so genannten phobischen Reaktion, dass eine bestimmte Reizkonfiguration übermäßig verallgemeinert und dann übertragen wird auf Situationen, die objektiv, von außen betrachtet in keinem Zusammenhang mit der traumatischen Erfahrung stehen. Für einen außenstehenden Beobachter ist diese Feststellung leicht zu treffen. Wie aber erkennt das betroffene Subjekt selbst den Unterschied zwischen einer Situation der Sicherheit und der Bedrohung? Wo endet der eine Situationstypus, wo beginnt der andere, und welche Kriterien entwickeln Betroffene für eine solche Unterscheidung?

      Untersuchen wir diese Frage am Beispiel von Herrn R. Er hat die Erfahrung von hilflosem Ausgeliefertsein an lebensbedrohliche situative Umstände gemacht, sowohl als Kind wie auch später beim Unfall, beides unter unvorhersehbaren Umständen. Wie soll er nun voraussehen können, wann etwas Unvorhergesehenes geschehen kann und wann nicht? Zudem bilden lebensbedrohliche Situationen aus sich heraus einen ganz besonderen Bedeutungshorizont. Das Erlebnis von → Todesnähe führt von sich aus eine andere Form von „Generalisierung“ herbei. Insofern der Tod den Zeithorizont des Individuums begrenzt und „schließt“, ist er die allgemeinste Kategorie. Der Tod ist die Grenze überhaupt. So ist es nicht verwunderlich, dass eine Erfahrung, die der Todesnähe ausgesetzt ist, „grenzenlos“ verallgemeinert wird. Schon unsere alltäglichen Kategorien bilden wir nicht nach dem induktiven Muster eines allmählichen Aufstiegs vom Einzelnen zum Allgemeinen, sondern, wie u. a. Piaget nachgewiesen hat, zielt jedes kognitive Schema auf Allgemeingültigkeit, die durch zusätzliche Erfahrungsprozesse dann differenziert und modifiziert werden kann. So stellt nicht die Verallgemeinerung der traumatischen Erfahrung das erklärungsbedürftige Phänomen dar, sondern umgekehrt deren Differenzierung. In der dialektischen Terminologie von Hegel gesprochen: Situationen werden nicht als zusammenhanglose Einzelheiten aufgefasst, sondern immer als Besonderung allgemeiner Kategorien und Bedeutungen. So kann auch eine generelle Erschütterung von Welt- und Selbstverständnis beim traumatisierten Individuum durch die Erfahrung besonderer traumatischer Situationen bewirkt werden. Traumatische Situationen werden vom erlebenden Subjekt als „repräsentativ“ für zentrale Aspekte des Weltbildes genommen. Sie führen zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverhältnisses in bestimmten Bereichen oder – wenn sie sich der Erfahrung von Todesnähe verbinden – auch insgesamt. Die therapeutische Veränderung kann sich daher nicht einfach darauf beschränken, eine situationsbezogene Übergeneralisierung zu „löschen“. Vielmehr muss der gesamte Welt- und Selbstbezug des Subjekts, von der physiologischen Ebene über die emotionale Erfahrung bis hin zu kognitiven und, wenn man will, „alltagsphilosophischen“ Mustern der Welt- und Selbsterfahrung so umgearbeitet werden, dass die traumatische Situation verständlich wird im Rahmen der allgemeinen Welterfahrung. Dieses kognitive und emotionale Begreifen der traumatischen Situation in ihrer relativen Position zur sozialen Lebenswelt bestimmt den Weg vom „Opfer“ zum „Überlebenden“ einer traumatischen Erfahrung.

      Vor allem durch die Todesdrohung und das Erlebnis von Todesnähe gewinnt die traumatische Situation eine Erlebnisqualität, die wir als → exemplarische Situation bezeichnen wollen. Die exemplarische Situation hat Modellcharakter für die Welterfahrung der traumatisierten Persönlichkeit. Viele Gewaltverbrecher, besonders wenn sie bestrebt sind, ihr Opfer auch seelisch zu verletzen, zielen darauf ab, die Situation für das Opfer zu einer exemplarischen zu machen. In einigen Fällen verwenden sie die Todesdrohung, um die besondere Situation für das Opfer zur allgemeinen zu gestalten. Die meisten Vergewaltiger nutzen die Todesdrohung zumindest implizit auch zu diesem Zweck. Ihr Verhalten zielt nicht auf sexuelle Befriedigung ab. Ihre „Befriedigung“ liegt vielmehr im erschütterten Selbst- und Weltverständnis eines Opfers, das dem Angriff hilflos ausgeliefert und gezwungen ist, den Täter als Herrn über Leben und Tod, als „absoluten Herrn“ (Hegel) anzuerkennen. Dass die exemplarische Extremsituation sich im Alltagsleben nicht ständig wiederholt, macht die Erfahrung – subjekttheoretisch gesehen – nicht weniger bedrohlich, sondern steigert manchmal noch ihre Bedrohlichkeit. Manche Psychoanalytiker haben versucht, die exemplarische Situationserfahrung von Traumaopfern durch den Begriff der „Introjektion“ zu erklären (von intro-iacere = nach innen werfen, sich gewissermaßen „reinziehen“). Die traumatische Situation und der Täter bilden demnach ein „Introjekt“ im Seelenleben des Opfers. Hier handelt es sich um einen räumlich-metaphorischen Versuch, Elemente des → Victimisierungssyndroms zu erklären, den Umstand nämlich, dass viele Opfer unbewusst, über lange Zeit, manchmal sogar lebenslang an die traumatische Erfahrung und den Täter gebunden bleiben. Kognitionstheoretisch ist die traumatische Situation für sie zu einer exemplarischen geworden ohne die Möglichkeit einer Differenzierung und Reorganisation von allgemeinen und besonderen situativen Charakteristika.

      Die → Dialektik von Besonderem und Allgemeinem ist auch zu berücksichtigen bei der zeitlichen Dimension des Traumatisierungsprozesses. Wann endet eine traumatische Situation? In objektiver Betrachtungsweise fällt die Antwort leicht. Sie ist dann zu Ende, wenn die reale Bedrohung vorüber ist. Dieser objektive Zugang zielt in der → Situationsanalyse jedoch zu kurz. Ein Beispiel dafür ist die Auffassung einiger deutscher Gutachter nach dem zweiten Weltkrieg bei Ausgleichszahlungen an Holocaustopfer. Einige vertraten im Gefolge der deutschen Psychiater Karl Jaspers und Karl Bonhoeffer die Auffassung, dass der Aufenthalt in einem KZ sicher einen Stressor dargestellt habe. Dieser sei aber nach der Entlassung aus dem Lager vorüber gewesen. Wenn bei den Opfern dennoch Schäden zu beobachten seien, so könnten diese eben nicht auf den Stress des KZ-Aufenthalts zurückgehen, sondern auf konstitutionelle, somatische und psychische Schwächen der Opfer (zur beschämenden Geschichte der deutschen Begutachtung von Naziopfern vgl. Pross 1988, 1995). In Wirklichkeit stellte diese rein objektivistische

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