Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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      Die lebensgeschichtliche Rekonstruktion der traumatischen Erfahrung in einer spezifisch psychotraumatologischen Begrifflichkeit und Dynamik kann also die Wirkung einer aktuellen traumatischen Situation auf dem Hintergrund der Lebensgeschichte verständlich machen, ohne sie auf einen mehr oder weniger beliebigen „Anlass“ zu reduzieren. Das Konfliktkonzept bei Rudolf und in der OPD steht in der Gefahr, die Kontinuität der lebensgeschichtlichen Erfahrung zu unterschätzen und könnte den Anschein einer relativ beliebigen Verknüpfung von Aktualtrauma und Lebensgeschichte fördern, wie er in der kritischen Frage des Gerichts bei Herrn R. zum Ausdruck kommt.

      Auch juristisch besteht hier natürlich ein bedeutsamer Unterschied. Wird das Trauma „unbewusst zum Anlass genommen“, sich einer Verantwortung zu entziehen, so besteht wenig Grund zu einer Kompensationsleistung und Unterstützung für das Opfer. Lässt sich mit einer geeigneten Heuristik hingegen ein direkter Zusammenhang zwischen traumatischer Vorbelastung und Aktualbelastung aufzeigen, vermittelt über das → ZTST und den Punkt → maximaler Interferenz, so besteht kein Anlass, die verantwortliche Instanz von Schadensersatzansprüchen zu entlasten. Um eine somatische Metapher zu verwenden: Wenn sich jemand bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall ein Bein bricht, das schon zuvor einmal gebrochen war, so wird kaum jemand auf die Idee verfallen, wegen seiner „Vorschädigung“ das Opfer verantwortlich zu machen und den Verursacher von Kompensationsleistungen zu entlasten. Im psychologischen Bereich kann die sog. „Vorschädigung“ allerdings zu solchen Konsequenzen führen, sobald sie nämlich unscharf gefasst oder so ausgedehnt wird, dass das aktuelle Trauma als lediglich akzidenteller Auslöser für eine bereitliegende Disposition, ev. sogar eine unbewusste Absicht des Opfers zur Selbstschädigung verstanden wird. Auch wenn es derartige Fälle gibt, so sollten Diagnosen doch in einer Begrifflichkeit ausgeführt werden, die den Unterschied zwischen der situationsabhängigen Ausbildung und lebensgeschichtlichen Kontinuität von Traumaschemata einerseits und einem „Konflikt“ im Sinne einer situationsunabhängigen Persönlichkeitsdisposition andererseits hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt.

      2 Situation, Reaktion, Prozess – ein Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung

      Bisher sind einige grundlegende Fragen, wie z. B. nach einer Definition von Trauma zwar angeklungen, aber nicht systematisch behandelt worden. Solche Fragen sind für das Verständnis von psychischer Traumatisierung und eine Wissenschaft Psychotraumatologie natürlich elementar. Manche der Fragen, die wir hier diskutieren, haben eine philosophische Dimension. Wer nicht gewohnt ist, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen, wird vielleicht befremdet sein, derartige Überlegungen in einem wissenschaftlichen Lehrbuch anzutreffen. Allerdings konfrontiert uns das Trauma selbst mit fundamentalen Fragen der menschlichen Existenz und des Werterlebens. Von daher sollten wir philosophischen Problemen nicht ausweichen, auch wenn der Weg manchmal mühsam ist, uns das, was wir im Alltagsleben wissen, ohne zu wissen, dass wir es wissen, auch explizit vor Augen zu führen. Denn ein solches „Metawissen“(= Wissen über Wissen oder Wissen zweiten Grades) ist das Ziel philosophisch-psychologischer Bemühungen. Es ist aber auch, wie sich noch zeigen wird, eine wesentliche Dimension im Umgang mit dem Trauma.

      Eine erste solche Frage stellt sich, wenn wir nach dem Begriff des Traumas fragen. Ist „Trauma“ nun eigentlich ein Ereignis oder ein Erlebnis? Handelt es sich um eine subjektive oder eine objektive Kategorie? Der Terminus „post-traumatische“ Belastungsstörung in den gegenwärtigen Diagnostikmanualen legt nahe, „Trauma“ sei ein Ereignis, das bereits vergangen ist, wenn sich die Symptome der Störung auszubilden beginnen. Nach dem Trauma (= post-traumatisch) bildet sich die Störung aus. Offensichtlich werden hier die Begriffe „Trauma“ und „traumatisches Ereignis“ miteinander vermischt, denn vergangen ist ja streng genommen nur das traumatische Ereignis: eine definitorische Nachlässigkeit, die für eine sich entwickelnde Wissenschaft nicht folgenlos bleibt. Dagegen ist festzuhalten, dass der Begriff Trauma nicht koextensiv mit „traumatischem Ereignis“ zu verstehen ist.

      Wenn das Trauma also kein Ereignis ist, also kein „objektiver“, äußerlicher Vorgang, sollte „Trauma“ dann nicht subjektiv definiert werden? Etwa so: Trauma ist ein unerträgliches Erlebnis, das die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten überschreitet. Für diesen Definitionsversuch sprechen einige gute Argumente, andere aber auch dagegen. Vor allem die Gefahr subjektiver Willkür und Beliebigkeit, sobald der Bezug des Erlebens auf das Ereignis außer Acht gelassen wird.

      Schon die bisherigen Überlegungen machen deutlich, dass in der Psychotraumatologie keine einfachen, eindimensionalen Lösungen existieren nach Art eines weit verbreiteten Entweder-Oder-Denkens. Auf unsere Problemstellung angewandt etwa: Entweder lässt sich das Trauma ganz objektiv definieren (als objektives Ereignis) oder der Traumabegriff wird völlig „unscharf“, da er nur subjektiv ist und damit auch willkürlich verwendet werden kann.

      Hier stellt sich die Frage: Liegt die Schwierigkeit nun eigentlich in der Sache selbst oder möglicherweise in unseren Denkgewohnheiten, die zu einfachen Schwarz/Weiß-Lösungen neigen? Wir sind der Meinung, dass letzteres zutrifft. Eine Wissenschaft wie die Psychotraumatologie hat immer zugleich mit Subjektivität und Objektivität zu tun. Wir müssen uns daher bemühen, unsere Denkgewohnheiten der Komplexität des Gegenstandes anzunähern. In der Psychotraumatologie benötigen wir eine Denkweise, die mit Widersprüchen umzugehen versteht, die den Widerspruch zum Beispiel zwischen einem objektiven und subjektiven Traumaverständnis nicht einfach als einen Irrweg oder als „unlogisch“ abtut, sondern ihn ganz im Gegenteil zur Grundlage der Forschung macht. Mit solchen in sich widersprüchlichen Phänomenen ist die Psychotraumatologie nahezu durchgehend befasst. Erforderlich ist daher eine dialektische Denkweise als Grundlage dieser Disziplin, die solchen Widersprüchen gerecht wird.

      Wir können festhalten: „Trauma“ muss sowohl objektiv wie auch subjektiv definiert werden. Hieraus ergeben sich bereits einige negative definitorische Bestimmungen, die zur Vermeidung von Irrtümern nützlich sind. „Trauma“ ist keine Qualität, die einem Ereignis inhärent ist noch aber einem Erlebnis als solchem. Entscheidend ist vielmehr die Relation von Ereignis und erlebendem Subjekt. Im Mittelpunkt steht also die Beziehung des Subjekts zum Objekt oder zur „Umwelt“. Dieser ökopsychologische Gesichtspunkt ist für die Traumaforschung zentral, wurde aber und wird in traditionellen Disziplinen wie Klinischer Psychologie, Psychopathologie, Psychiatrie, Kinderpsychiatrie und auch in der Psychoanalyse oft vernachlässigt. So weit → ökologische Ansätze existieren, wie in der Entwicklungspsychologie (etwa Bronfenbrenner 1977) oder in der psychosomatischen Medizin (von Uexküll 1996, vgl. Abschnitt 2.2), wurden sie bisher noch nicht systematisch für die Traumaforschung entwickelt.

      Epistemologisch wollen wir unseren Forschungsansatz in der Psychotraumatologie als ökologisch-dialektisch bezeichnen. Der ökologische Gesichtspunkt erfordert, traumatisierende Erfahrungen aus ihrem Umweltbezug, aus der wechselseitigen Beziehung von Person und Umwelt zu verstehen. Der dialektische Gesichtspunkt verdeutlicht hier u. a., dass zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen der „Innenperspektive“ des leidenden Subjekts und der „Außenperspektive“ des objektiven Beobachters ein spannungsreiches und in sich widersprüchliches Verhältnis besteht. Die Pole des Subjektiven und Objektiven können nicht „kurzgeschlossen“ werden, wie dies in einer reinen Erlebens- oder reinen Verhaltenspsychologie geschieht. Trauma ist kein „Stimulus“ oder „Stressor“ und auch keine bloße → „Kognition“. Vielmehr muss das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenperspektive in der Traumaforschung ertragen und produktiv verwendet werden.

      Die „traumatische Situation“ ist aus diesem Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, von traumatischen Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungszuschreibung, von Erleben und Verhalten zu verstehen. Sie bildet die erste Phase unseres heuristischen Verlaufsmodells der psychischen Traumatisierung. Die „Situation“ verstehen wir dabei zugleich als die minimale Beobachtungseinheit, die ohne Verlust entscheidender Verstehensmöglichkeiten nicht unterschritten werden kann. Wer sich nicht in

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