Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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href="#ulink_feee9786-68ac-52dc-8c8b-18a077fde176">Abschnitt 2.1 mit dem Begriff der „Situation“ ausführlich befassen, einmal in seinem theoretischen Bezug, wie er in der phänomenologischen Philosophie, Psychologie und Soziologie sowie der psychosomatischen Medizin entwickelt wurde. Eine → Phänomenologie und Typologie traumatischer Situationen ist zugleich aber auch ein praktisches Forschungsziel der Psychotraumatologie als einer angewandten wissenschaftlichen Disziplin.

      Traumatische Situationen sind solche, auf die keine subjektiv angemessene Reaktion möglich ist. Sie erfordern dringend, z. T. aus Überlebensgründen eine angemessene und „not-wendige“ Handlung und lassen sie doch nicht zu. Wie reagieren wir auf Situationen, die eine angemessene Reaktion nicht zulassen? Die Paradoxie der traumatischen Situation ist zugleich die der „traumatischen Reaktion“, der zweiten Phase in unserem (ökologisch-dialektischen) Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung. Wie verarbeitet das betroffene Individuum oder die soziale Gruppe eine Situationserfahrung, die ihre subjektive Verarbeitungskapazität oder vielleicht die von uns allen massiv überschreitet? Das ist die leitende Forschungsfrage des Verlaufsmodells in Phase 2, im Hinblick auf die → traumatische Reaktion oder „Notfallreaktion“.

      Auch ein dritter Gesichtspunkt schließlich ist in der Paradoxie der → traumatischen Reaktion (Situation) schon enthalten. Er leitet über zum dritten Moment des Verlaufsmodells, dem → traumatischen Prozess. Das Paradoxon der traumatischen Reaktion ist hier gewissermaßen auf Zeit gestellt. In der weiteren Lebensgeschichte, manchmal ein volles Leben lang, bemühen sich die Betroffenen, die überwältigende, physisch oder psychisch existenzbedrohende und oft unverständliche Erfahrung zu begreifen, sie in ihren Lebensentwurf, ihr Selbst- und Weltverständnis zu integrieren; dies in einem Wechselspiel von Zulassen der Erinnerung und kontrollierender Abwehr oder Kompensation, um erneute Panik und Reizüberflutung zu vermeiden. Auch hier ist die → Dialektik von Innen- und Außenperspektive für die psychotraumatologische Forschung grundlegend. Von der Außenperspektive des unbeteiligten Beobachters aus lässt sich die Zerstörung unseres Selbst- und Weltverständnisses, welche traumatische Erfahrungen bewirken, oft noch nicht einmal ahnen. Die systematische Erforschung traumatischer Prozesse auf dem Hintergrund von traumatischer Situation und Reaktion ist eines der Ziele unseres heuristischen Modells.

      Die Phasen des Modells stehen nicht in einem zeitlichen, sondern in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Sie gehen auseinander hervor, laufen parallel und durchdringen einander. Wann ist eine traumatische Situation beendet? Bei Ende der Konfrontation mit dem bedrohlichen Ereignis? Mit der Flucht, dem physischen Überleben? Oder erst mit dem psychischen Überleben, mit der Entwicklung der Betroffenen vom Opfer zum (psychisch) „Überlebenden“ einer traumatischen Situation?

      Die Problematik, die das Trauma aufwirft, kann ein Mensch oftmals nicht allein bewältigen. Traumatische Situationen und die Verarbeitungs- und Selbstheilungsversuche der Betroffenen haben wesentlich eine soziale Dimension. Das traumatisierte Individuum ist kein isoliertes Einzelwesen, sondern um einen zunächst paradox klingenden Begriff zu verwenden, ein „individuelles Allgemeines“, d. h. die Besonderung jener allgemeinen menschlichen Möglichkeiten, sozialen Absprachen, Lebensprinzipien und Lebenswerte, an denen wir alle teilhaben, so dass ihre Verletzung letztlich uns alle als eine eigene Möglichkeit betrifft. Im Einzelfall sind von einem Desaster oder einer feindseligen, zerstörerischen Handlung bestimmte Individuen betroffen und andere nicht. Für das Trauma der Betroffenen, ihre traumatische Reaktion, den sich entwickelnden Prozess, den Heilungsverlauf oder weitere traumatische Sequenzen ist nun von wesentlicher Bedeutung, wie sich die Allgemeinheit zum individuellen Elend der Traumatisierten verhält. Unterliegen diese der gesellschaftlichen Verdrängung, Ausgrenzung oder gar Missachtung, weil sie durch ihr Leiden an die „Katastrophe“ erinnern, so ist für sie die traumatische Situation noch keineswegs beendet. Entscheidend ist, ob wir im traumatischen Leid unserer Mitmenschen das „allgemeine menschliche Wesen“ in seiner Besonderung, eventuell in seiner Entstellung und Zerstörung erkennen oder darin nur einen zwar bedauerlichen, statistisch aber durchaus „erwartbaren“ Einzelfall sehen.

      Das verantwortliche Sich-Erkennen der Allgemeinheit im besonderen Elend der Opfer, das Bemühen um Hilfe für sie und ihre „Rehabilitation“, die Anerkennung von Gerechtigkeit und Würde ist vor allem bei absichtlich herbeigeführ-ten Desastern für den Traumaverlauf bzw. den Erholungs- und Restitutionspro-zess von großer Bedeutung. Lehnt ein soziales Kollektiv es beispielsweise ab, die Verantwortung zu übernehmen für Gewalttaten oder sonstiges Unrecht ge-gen Außenstehende oder Minoritäten, so untergräbt die verleugnete Schuld die psychische und moralische Substanz der Täter- oder Verursachergruppe oft über Generationen hinweg. Der „traumatische Prozess“ ist also nicht nur ein individueller, sondern stets auch ein sozialer Vorgang, worin die Täter-Opfer-Beziehung bzw. das soziale Netzwerk der Betroffenen und letztlich das soziale Kollektiv einbezogen sind.

      Unser (ökologisch-dialektisches) → Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung enthält im Überblick die folgenden Annahmen, die als Heuristik bei der Untersuchung psychotraumatologischer Fragestellungen dienen:

      •Die traumatische Erfahrung muss als dynamischer Verlauf untersucht werden. Dieser umfasst die Momente oder Phasen der traumatischen Situation, der traumatogenen Reaktion und des traumatischen Prozesses. Diese Phasen sind intern aufeinander bezogen und gehen dynamisch auseinander hervor.

      •Das bewegende Moment des Traumaverlaufs ist die inhärente Paradoxie von existenziell bedrohlichen Handlungssituationen, die jedoch kein adäquates Verhalten zulassen; von Handlungsbemühungen, emotionalen und kognitiven Bewältigungsversuchen, die in sich zum Scheitern verurteilt sind; von Lebensentwürfen, die um den unbewältigten, traumatischen Erfahrungskomplex herum organisiert sind.

      •Die traumatische Erfahrung findet im psychoökologischen Bezugssystem des sozialen Netzwerks statt. Dieses umfasst neben den Angehörigen, Freunden und Bekannten der Betroffenen die Täter-Opferbeziehung (bzw. Verursacher-Opferbeziehung) ebenso wie die jeweilige soziale Makrogruppe, in deren Einflusssphäre es zur Traumatisierung kommt.

      Situation, Reaktion und Prozess sind in diesem Modell intern aufeinander bezogen, sie bilden drei unterscheidbare Momente einer einzigen dynamischen Verlaufsgestalt. Ein Verstoß gegen die Regeln des Modells ist zum Beispiel die isolierte Untersuchung einzelner Phasen ohne Rücksicht auf diese Verlaufsgestalt.

      So hat die traditionelle, vor allem psychiatrische Psychopathologie immer wieder nosologische Einheiten beschrieben und mit personenbezogenen Attributionen versehen, die in Wirklichkeit nur aus der traumatischen Verlaufsgestalt heraus verständlich werden. Heute wissen wir beispielsweise, dass die Lebensgeschichte späterer „Borderline-Patienten“ schwere Kindheitstraumata aufweist, wie physische oder sexuelle Kindesmisshandlung und/oder ein extrem widersprüchliches Erziehungsverhalten. Auch „hysterische“ Patientinnen (zumeist werden Frauen so diagnostiziert) haben oft diesen Hintergrund von Lebenserfahrungen. Betrachtet man Lehrbücher der Psychopathologie, zum Teil auch der Psychoanalyse, so wird das Symptombild überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich personbezogen dargestellt, entweder als ein System innerpsychischer Mechanismen oder als erbgenetisch bedingte Dysregulation des psychischen Geschehens. Wir stellen nicht in Frage, dass auch psychobiologische Faktoren an manchen psychopathologischen Erscheinungen beteiligt sind. So weit jedoch psychotraumatische Erfahrungen eine Rolle spielen, sind diese allein aus der dynamischen Verlaufsgestalt von Situation, Reaktion und Prozess heraus zu verstehen, nicht aber aus nur einem dieser Verlaufsmomente, etwa allein aus dem Symptombild, das sich in Phase 3, dem traumatischen Prozess herausbildet.

      Unser Verlaufsmodell soll also eine Forschung und therapeutische Praxis anleiten, die am inneren Zusammenhang des Traumaerlebens und der Traumaverarbeitung orientiert ist und kann dabei behilflich sein, traditionelle Fehler und Sackgassen zu vermeiden, die aus einer objektivistischen oder aus einer kontext-isolierend intrapsychistischen Betrachtungsweise entstehen.

      Hiermit sind einige theoretische Grundlagen unseres (ökologisch-dialektischen) Verlaufsmodells der psychischen Traumatisierung umrissen. Es bietet ein heuristisches

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