Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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im Inhalt des zuvor geschilderten Alptraums. Dieser stellt dar, was hätte geschehen können, wenn Herr R. nicht dem Unfallgegner geistesgegenwärtig und trainiert ausgewichen wäre. Auch die Dissoziierung von Körper und Geist, das „über der Sache schweben“, wie es im Traum geschieht, gehört zu den traumakompensatorischen Mechanismen in einer lebensbedrohlichen Belastungssituation.

      Der wiederkehrende Alptraum mit seinem deutlich auf den Unfall bezogenen Inhalt ist zugleich eines der Kriterien des bPTBS. Das erste der vier Kriterien, das außergewöhnliche, evtl. lebensbedrohliche Ereignis ist mit dem Unfall gegeben. Auch das zweite, intrusive Erinnerungsbilder, trifft auf Herrn R. zu. Er erlebt wiederkehrende, eindringliche, belastende Erinnerungen an das Ereignis und wiederkehrende, erschreckende Träume, in denen das Unfallgeschehen sogar noch bedrohlicher als in der Realität erscheint.

      Kriteriengruppe drei erfasst das dauerhafte Vermeiden von Reizsituationen, die mit dem Trauma verbunden sind (avoidance, denial). Zumindest drei Symptome finden sich bei Herrn R. Er versucht, Gedanken oder Gefühle zu vermeiden, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Er bemüht sich, Handlungen oder Situationen zu vermeiden, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen. Er hat eine depressiv gefärbte, gegenüber dem vortraumatischen Zustand veränderte Zukunftsperspektive.

      Die vierte Kriteriengruppe umfasst Symptome erhöhter Schreckhaftigkeit und Erregbarkeit vs. emotionale Abstumpfung. Hier zeigt Herr R. vier Symptome der ersten Teilgruppe, nämlich Einschlafschwierigkeiten, Irritierbarkeit und Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten und erhöhte Schreckhaftigkeit. Die meisten dieser Symptome wurden bereits in dem Erlebniszusammenhang beschrieben, in dem sie während des Interviews vom Probanden erwähnt wurden.

      Aufgrund der Exploration und des Interviews trifft auf Herrn R. die Diagnose „chronifiziertes PTBS“ zu. Diese Diagnose wurde auch unterstützt durch die Ergebnisse der Impact of Event Scale (IES, Horowitz et al. 1979). In der angewandten Version wurden zwei der Traumadimensionen erfasst: Intrusion und Verleugnung (Hütter und Fischer). In beiden weist das Testergebnis von Herrn R. Höchstwerte auf; 27 von 28 möglichen Punkten in der Dimension „Intrusion“ und 28 von 32 möglichen Punkten in „Avoidance-Denial“.

      Diagnose. Chronifiziertes psychotraumatisches Belastungssyndrom (im Sinne von DSM und ICD) infolge eines unverschuldeten Verkehrsunfalls. Ein Schwerpunkt der Symptomatik liegt im Bereich phobischer und depressiver Reaktionen. Es besteht ein neuropsychologisches Residualsyndrom nach unfallbedingtem Schädel-Hirn-Trauma mit symptomatischem Schwerpunkt im Bereich des nichtverbalen Kurzzeitgedächtnisses.

      Ein unbewusster Konflikt, der schon aus der Kindheit stammt und durch den Unfall lediglich reaktiviert worden wäre, besteht bei Herrn R. nicht. Zumindest ist in der prätraumatischen Vorgeschichte kein Hinweis zu erkennen auf eine Kindheitsneurose oder bedeutsame Störungen der Kindheits- oder Erwachsenenentwicklung. Der Fall von Herrn R. weist jedoch verschiedene Risikofaktoren für ein chronisches PTBS auf, wie sie auch in einem anderen Bereich der speziellen Psychotraumatologie, nämlich bei Opfern von Gewaltverbrechen, festgestellt wurde. Zu diesem Ergebnis kommen Untersuchungen im Rahmen des Kölner Opferhilfe Modellprojekts (KOM; Fischer et al. 1998), welches das Deutsche Institut für Psychotraumatologie als gemeinnütziger Verein zusammen mit der Universität Köln und dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein Westfalen betreibt. Die Risikofaktoren sind durch einige situative und lebensgeschichtliche Merkmale bestimmt, die möglicherweise auch auf Unfallpatienten zutreffen. Dazu gehören:

      Subjektives Erleben von Todesangst bzw. von → Todesnähe; ungünstige postexpositorische Erfahrungen, wie sie Herr R. zum Beispiel mit dem Unfallgegner und der gegnerischen Versicherung machen musste; starke peritraumatische Dissoziationstendenzen (Lebensfilm, Schweben über dem Unfallgeschehen); traumatische Vorbelastungen in der Lebensgeschichte. Ein weiteres Merkmal, eine relativ lange zeitliche Erstreckung der traumatischen Situation, das vor allem bei den Opfern von Gewaltverbrechen prognostisch diskriminiert, war bei Herrn R. nicht gegeben.

      Mit dem Kriterium einer lebensgeschichtlich vorausgehenden Traumatisierung kommen wir zurück auf die Erinnerung an die Bombennacht des etwa vierjährigen Jungen, die bezeichnenderweise ganz am Anfang des „Lebensfilms“ in der Erinnerung wieder auftaucht. Der Proband war mit seiner Mutter aus der bombardierten Stadt geflohen, hatte die Zerstörung der Häuser und den Tod von Menschen erlebt und möglicherweise auch damals schon Todesangst empfunden, zumindest aber eine „Erschütterung“ seines „Selbst- und Weltverständnisses“ im Sinne unserer Definition des Traumas, eine tief greifende Verunsicherung, gegen die er möglicherweise kompensatorisch eine sehr aktive Lebensform entwickelt hatte, wie aus der Anamnese zu entnehmen war. Als ältester Sohn hatte er sich in besonderer Weise für die Mutter und die jüngeren Geschwister verantwortlich gefühlt, eine Haltung, die er später auf seine Frau und die eigene Familie übertrug. Das → traumakompensatorische Schema besteht also in der ständigen Bemühung um Schutz und Fürsorge für andere, eine Lebensform, die durch die dem Unfall folgende eigene → Hilflosigkeit abrupt blockiert wurde. Alles kompensatorische Bemühen kann nicht verhindern, dass die völlig unvorhersehbare Lebensbedrohung wiederkehrt. In sehr eindrucksvoller Weise tritt im peritraumatisch dissoziierten → Traumaschema daher die Kindheitsbedrohung als erste Erinnerung im „Lebensfilm“ wieder auf. Allerdings versagen im Nachhinein die gewohnten kompensatorischen Mechanismen. Herr R. bemüht sich verzweifelt, seine berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen, wird jedoch durch die anhaltenden Störungen daran gehindert und überfordert sich hoffnungslos. Das → ZTST besteht demnach darin, eine vergleichbare, dem Traumaschema assimilierte Bedrohung erleiden zu müssen, ohne jedoch für das aktive, geistesgegenwärtige Verhalten Anerkennung zu finden und ohne den Ausweg einer Kompensation durch Arbeit und Leistung, der wiederum Schutz und Sicherheit (für andere) garantiert. Der Zusammenbruch der bisherigen kompensatorischen Mechanismen ist die zentrale „Bruchstelle“ in der Dynamik des Traumageschehens. Sie ist allerdings auch der Ansatzpunkt für die therapeutische Intervention, die aber leider nicht sehr effektiv gewesen zu sein scheint.

      Die letzten Ausführungen greifen auf einige Konzepte vor wie → Traumaschema, die in späteren Abschnitten ausführlich entwickelt werden. Eine Verständnishilfe ist über das Glossar möglich.

      Einige allgemeinere Bemerkungen möchten wir noch zu dem evtl. „vorbestehenden Konflikt“ bei Herrn R. machen, wonach das Gericht in diesem Gutachtenfall in folgender Formulierung fragt: „Ist der Unfall nur eine seinem Wesen nach auswechselbare Ursache, nur ein Kristallisationspunkt, der unbewusst zum Anlass genommen wird, sich der Verantwortung für die eigene Lebensführung insofern zu entziehen, als (der Proband) sich den Belastungen des Erwerbslebens nicht mehr zu stellen braucht? Oder dazu, andere latente innere Konflikte zu kompensieren?“

      Mit seiner Diagnose einer „unfallreaktiven Somatisierungsstörung“ nach Rudolf hatte einer der Gutachter diese Frage des Gerichts positiv entschieden, ohne allerdings den Konflikt inhaltlich zu benennen. Hier zeigt sich u. E. eine Gefahr bei der Verwendung des Konfliktbegriffs, die möglicherweise auch mit der Terminologie des „Aktualkonflikts“ für die „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ (OPD) verbunden ist (zur Diskussion vgl. Heuft et al. 1997). Der „Konflikt“ verselbständigt sich zu einer Entität, die ein schwer überschaubares Eigenleben gewinnt, und die traumatische Erfahrung reduziert sich parallel dazu auf einen mehr oder weniger „beliebigen Anlass“, konfliktuöse „Wünsche“ zu befriedigen. Dieser Fall ist natürlich vorstellbar, müsste aber besonders diagnostiziert werden. Die Verwendung des Konfliktbegriffs kann verwirren. Unsere oben entwickelte psychotraumatische Rekonstruktion zeigt eine davon unterschiedliche Verbindung von traumatischer Vorbelastung und aktuellem Trauma. Die aktuelle traumatische Erfahrung erscheint hier nicht als mehr oder weniger „beliebiger“ Anlass zur Aktualisierung eines latenten Konflikts. Sie wirkt im Gegenteil durch ihre assimilative Ankopplung an das frühere Traumaschema, wie der „Lebensfilm“ bei Herrn R. eindrucksvoll zeigt. Stammt das Traumaschema aus der Kindheitserfahrung, so wird es sich oft als besonders „akkommodationsresistent“ erweisen, was beispielsweise die fortschreitende Generalisierung und Ausbreitung der Phobie bei Herrn R. erklären kann. Es ist, als würde das

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