Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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Manche Patienten sind vorübergehend sogar symptomfrei und entwickeln Symptome erst bei einer situativen Neuauflage der traumatischen Erfahrung.

      In deutscher Übersetzung schlagen wir für die im PTSD anvisierte Symptomkonstellation die Bezeichnung → basales psychotraumatisches Belastungssyndrom (bPTBS) vor. Diese Übersetzung ist der englischen Abkürzung relativ ähnlich, in der Terminologie aber aus verschiedenen Gründen nicht völlig identisch. Wir halten zunächst die Vorsilbe posttraumatisch für zweifelhaft, da sie eine Gleichsetzung von Trauma und traumatischem Ereignis suggeriert, während Trauma nach unserem Verständnis und auch im üblichen Sprachgebrauch eher einen prozessualen Verlauf nahelegt. Das „Trauma“ ist nicht vorbei, wenn die traumatische Situation oder das traumatische Ereignis vorüber ist. Weiterhin halten wir die Wortverbindung von Trauma und Stress für problematisch. In deutschen KZ-Gutachterverfahren der Nachkriegszeit wurde der Stressbegriff beispielsweise dazu verwendet, ein Trauma auszuschließen. Einige Gutachter gestanden zwar zu, dass der Aufenthalt in einem Konzentrationslager für die Betroffenen „Stress“ bedeutet habe. Jetzt noch anhaltende Symptome seien auf konstitutionelle biologische Faktoren zurückzuführen. Tatsächlich sah die klassische Stresstheorie keine irreversiblen Symptome und Langzeitschäden vor. Auch besteht Grund zur Annahme, dass sich die Physiologie der → Stressreaktion von der der → traumatischen Reaktion qualitativ unterscheidet. Der Ausdruck „psycho-traumatisch“ erscheint uns dagegen klarer als die Wortkombination von Trauma und Stress und speziell in Deutschland historisch weniger belastet. Unter Stressreaktion verstehen wir demgegenüber die Antwort des Organismus auf eine kritische Belastungssituation und kritische Ereignisse, wobei es in der Regel nicht zu der für die Traumareaktion charakteristischen qualitativen Veränderung von psychischen und/oder organischen Systemen kommt.

      Die vorgeschlagene Wortwahl schließt Übergänge zwischen Trauma und Stress nicht aus, ohne jedoch beide Termini in einem Ausdruck zusammenzufügen. Zudem hat unser terminologischer Vorschlag den Vorteil, das im „PTSD“ (nach DSM und ICD) benannte Symptombild in ein breites Spektrum psychotraumatischer Syndrome einzufügen und führt damit fort von der Vorstellung, es gäbe auf der phänomenalen Ebene ein einziges Syndrom, die PTSD.

      Die Bezeichnung basal im Terminus basales PTBS ist nicht im Sinne eines umfassenden Katalogs aller psychotraumatischen Symptome zu verstehen, sondern im Sinne von basalen oder Grunddimensionen der traumatischen Reaktion, die auch dann wirksam sind, wenn phänomenal noch andere Merkmale in Erscheinung treten. Bei der Untersuchung der traumatischen Reaktion in Abschnitt 2.3 werden wir zeigen, dass der Wechsel von Verleugnung und möglichst dosiertem Wiederzulassen der traumatischen Erinnerungsbilder ein Grundmuster in der Psychophysiologie der Traumaverarbeitung darstellt. Everly (1995) schlägt ein zwei Faktoren-Modell der Traumafolgen vor, das sich aus dem Zusammenwirken einer im wesentlichen physiologisch gesteuerten Erregungsdimension und der psychischen Dimension des Diskrepanzerlebnisses ergibt, welches mit der traumatischen Erfahrung verbunden ist (Everly u. Lating 1995, 27-48). Erregungsdimension und psychologisches Trauma können nach Everly grundsätzlich unabhängig voneinander variieren. Extreme Erregungszustände des ZNS, die in Abhängigkeit von extremen Stressoren auftreten und im Übrigen einer Bahnung im limbischen System unterliegen können, führen wiederum zu körperlichen Störungen wie Koronarerkrankung oder Magenulcera, die bei geringerem zentralnervösem Aktivationsniveau nicht zu erwarten sind. Grundsätzlich kann dem „2-Faktoren-Modell“ zufolge extreme psychische Belastung auch mit vergleichsweise geringem Aktivierungsniveau einhergehen, eine Konstellation, die physiologisch gesehen dann weniger gravierende Folgen erwarten lässt. Wenn wir nun den zweiphasigen Prozess von Intrusion vs. Verleugnung/Vermeidung als basales Merkmal der psychischen Traumaverarbeitung verstehen, repräsentieren die drei Dimensionen des bPTBS – intrusive Erinnerungsbilder, Verleugnung/Vermeidung und das physiologische Erregungsniveau in der Tat die basalen Dimensionen von Traumaverarbeitung und Symptomproduktion. Das bPTBS umfasst demnach drei grundlegende Dimensionen, die bei jeder Traumatisierung angesprochen sind.

      Abhängig von der Natur der jeweiligen traumatischen Situation und der Disposition des Individuums können die drei Dimensionen des bPTBS recht unterschiedlich ausgeprägt sein. Daraus ergeben sich phänomenal wiederum unterschiedliche Symptombilder. Bei extremer Ausprägung der Verleugnungs-/Vermeidungsdimension sind die sog. „frozen states“ (nach Mardi Horowitz 1976) beobachtbar, apathisch-depressive Erstarrungszustände mit emotionaler Anästhesie und einem katatonieähnlichen Verhaltensbild, ev. auch psychosomatischen Begleiterkrankungen. Die Extremform der Intrusionskomponente führt dagegen zu einem agitierten Erregungszustand und hilfloser Überflutung durch traumatische Reize bzw. Erinnerungen. Extremvarianten der physiologischen Erregungskomponente gehen mit einem langanhaltenden Erregungszustand einher, der ebenfalls eine Reihe körperlicher Erkrankungen nach sich ziehen kann.

      Als Beispiele solcher „Erregungskrankheiten“ führt Everly (1995, 44) auf: Bluthochdruck, Kammerflimmern im Zusammenhang mit psychischen Belastungen, kardiale nichtischämische Muskeldegeneration, koronare Herzerkrankungen, Migräne, Raynaudsche Krankheit, Spannungskopfschmerz, funktionelle Störungen des muskulären Apparates, Magengeschwüre und Colon irritabile (chronische nicht primär organische Durchfallerkrankung).

      Diese Erkrankungen können sich im Gefolge extremer und langanhaltender Aktivationsperioden des autonomen Nervensystems einstellen. Viele von ihnen wurden beispielsweise als Komponenten des KZ-Syndroms bei ehemaligen KZ-Häftlingen festgestellt, jedoch erst nach langer Auseinandersetzung mit den deutschen Gutachtern auch rechtlich als Haftschaden anerkannt. Sie zählen nicht zum Algorithmus des bPTBS (im Sinne der PTSD), auch nicht die katatonieähnlichen „frozen states“ oder die extremen Erregungszustände.

      Versteht man das Syndrom jedoch verlaufstheoretisch als Momentaufnahme von Prozessen traumatischer Erlebnisverarbeitung, so werden auch diese Symptome als Extremvariante der drei Komponenten (Erinnerung, Verleugnung und Erregung) erkennbar, die an der Traumareaktion generell beteiligt sind. Im Sinne eines dynamisierten Verständnisses der bPTBS halten wir es für nützlich, auch die zuvor aufgeführte Extremausprägung der einzelnen Dimensionen und ihre Folgeerscheinungen in den Syndromalgorithmus einzubeziehen auf Kosten der Forderung, dass für die Diagnose alle drei Dimensionen mit Symptomen besetzt sein müssen, wie es das jetzige PTSD vorsieht.

      Verzögertes PTBS. Das basale psychotraumatische Belastungssyndrom kann auch nach Monaten, manchmal erst nach Jahren in Erscheinung treten. Auch diese Beobachtung spricht u. E. dafür, psychische Traumatisierung als einen Verlaufsprozess zu verstehen. Hier kann das Erlebnismoment der Nachträglichkeit beteiligt sein, wenn dem früheren Erlebnis erst im Nachhinein eine existenziell bedrohliche Bedeutung verliehen wird. Bedingt durch eine Wiederholung von Komponenten der traumatischen Situation, durch Lebenskrisen oder „Passagen“ im Lebenszyklus (wie Adoleszenz, Elternschaft, Altern) kann ein bis dahin latentes → Traumaschema stimuliert werden und zur Symptomproduktion beitragen.

      Tabelle 3: Victimisierungssyndrom nach Ochberg (1993, 782, Übers. G. F. und P. R.)

      A. Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von physischer Gewalt oder psychischem Missbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität, dies entweder als Opfer oder als Zeuge.

      B. Die Entwicklung von mindestens x (Anzahl muss noch festgelegt werden) der folgenden Symptome (nicht vorhanden vor der Victimisierungserfahrung):

      1)Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr gewachsen zu sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der speziellen traumatischen Situation hinausgeht (z. B. allgemeine Passivität,

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