Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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ihrer Psychoanalysekritik u. E. eine grundsätzliche, epistemologische Frage aufgeworfen, die sich etwa folgendermaßen formulieren lässt: Wie weit wird in der Psychoanalyse (und in der Psychologie überhaupt) ein Gleichgewicht zwischen „intrapsychischen“ Faktoren und externen Umweltfaktoren in seiner Bedeutung für die psychische Entwicklung anerkannt und angemessen berücksichtigt? Wie weit wird dieser dialektische Zusammenhang von subjektiver Bedürfniskonstellation und objektiven Situationsfaktoren mit der Konzentration auf rein „intrapsychische Verhältnisse“ unterlaufen? Ein kritischer Vorbehalt ist hier sicherlich angebracht bei einzelnen Studien oder auch psychoanalytischen Ansätzen, die bei traumatogenen Störungen keinen phänomenologisch ausgewiesenen Zusammenhang mit traumatischen Situationsfaktoren herzustellen vermögen. Diese Kritik wurde gegenüber den Theorien von Melanie Klein und Bion erhoben. Im Gegensatz dazu fordert Freuds ursprünglicher Traumabegriff dazu auf, pathogene Umweltkonstellationen systematisch in die psychoanalytische Untersuchung einzubeziehen. Freud knüpft zunächst an eine Analogie zum körperlichen Trauma an, wie folgende Definition verdeutlicht:

      „Wir nennen so (traumatisch, d. Verf.) ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.“ (GW XI, 284).

      Eine ähnliche organische Metapher findet sich auch in Freuds Arbeit von 1920g, in „Jenseits des Lustprinzips“, worin er über die Selbstorganisation der lebendigen, organischen Substanz nachdenkt. Das lebende Bläschen wird vor Außenreizen durch eine Schutzhülle oder einen Reizschutz geschützt, der nur erträgliche Energiequantitäten durchlässt. Hat diese Hülle einen Einbruch erlitten, dann liegt ein Trauma vor. Nun ist es die Aufgabe des psychischen Apparates, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, um Gegenbesetzungen aufzurichten, die anflutenden Reizquantitäten zu binden und die Wiederherstellung des Lustprinzips zu ermöglichen.

      Bedeutsam für Freuds Traumatheorie ist neben ihrer körperlich-organischen Metaphorik noch der Begriff der Nachträglichkeit. Ein Beispiel sind quasi-erotische Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern. Manchmal erst in der Pubertät kommen dem Kind die sexuellen Anklänge der Situation zu Bewusstsein. So wird die frühe Szene rückwirkend neu bewertet, diesmal im Bedeutungshorizont der entwickelten sexuellen Phantasien und Wünsche eines Adoleszenten. Hier nimmt der Traumabegriff eine Tendenz in sich auf, die sich in der gesamten Fortentwicklung des Freudschen Denkens findet: die zeitliche Einbindung der seelischen Phänomene in den Lebensentwurf und die Lebensgeschichte. Die Zeitstruktur der Nachträglichkeit muss beim Studium traumatischer Prozesse generell berücksichtigt werden. Dem trägt das → Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung Rechnung.

      In einer späteren Epoche der Entwicklung des Traumabegriffs verschwindet Laplanche und Pontalis (1967) zufolge allerdings die ätiologische Bedeutung des Traumas für die Neurose zugunsten des Phantasielebens und der Fixierungen der Persönlichkeitsentwicklung auf verschiedenen Libidostufen. Genauer gesagt entwickelt Freud einen zweiten Traumabegriff. Neben unerträglichen Situationsfaktoren werden inakzeptable und unerträglich intensive Triebwünsche und -impulse als Traumafaktor untersucht. Wenn somit auch der traumabezogene Standpunkt nicht verlassen wird, wie Freud betont, so wird er doch in eine breitere ätiologische Konzeption einbezogen, die „innere“ Faktoren berücksichtigt wie die physische Konstitution und die Kindheitsentwicklung in ihrem gesamten Verlauf. Trauma wird jetzt Bestandteil einer Geschichte als Lebensgeschichte und als Geschichte der Entwicklung von Triebwünschen und Lebenszielen. In dieser weiten Konzeption der Neurose-entstehung ist das Trauma ein ätiologisches Moment unter anderen, das sich in einer → Ergänzungsreihe mit Erbfaktoren und Triebschicksal befindet. Der Ausdruck bezeichnet ein komplementäres Ergänzungsverhältnis interner und externer ätiologischer und pathogenetischer Faktoren, die sich zu einem pathologischen Schwellenwert aufschaukeln können. Die kritische Frage an den psychoanalytischen Umgang mit Traumata lässt sich folgendermaßen konkretisieren: Werden im Einzelfall beide Traumakonzepte – unerträgliche Situation vs. unakzeptabler Impuls – (→ Traumatisierung) gleichermaßen in Erwägung gezogen? Welchem Konzept wird der Vorzug gegeben? Bei nur oberflächlicher Kenntnis kann die „Situation“ allzu leicht als normal, unauffällig oder durchschnittlich betrachtet werden, wodurch ev. Traumafolgen „automatisch“ dem → Trieb- oder Phantasieleben der Persönlichkeit zugeschrieben werden. Solch eine Vorentscheidung kann weit reichende Konsequenzen haben. Wird z. B. die psychoanalytische Langzeitbehandlung traumatisierter Patienten nicht explizit auch als → Traumatherapie geführt (vgl. Abschnitt 4), so wird die Verleugnungstendenz des Opfers unterstützt, damit auch die gefährlichen Tendenzen zur Selbstbeschuldigung. Hier ist schon vom Therapiekonzept her eine Retraumatisierung des Patienten zu erwarten. Dieses Problem stellt sich besonders in der gegenwärtigen kleinianischen Richtung, die nach der Einschätzung von Schafer (1997, 354 passim) auf die Rekonstruktion und Aufarbeitung von Traumata generell zu verzichten scheint.

      Eine extern traumatische Entstehungsgeschichte nimmt Freud bei der traumatischen Neurose an. Laplanche und Pontalis (1967, 521) fassen sein Verständnis dieses psychiatrischen Konzepts folgendermaßen zusammen:

      „Hier sind 2 Fälle zu unterscheiden, a) das Trauma wirkt als auslösendes Element, es enthüllt eine präexistente neurotische Struktur, b) das Trauma hat einen determinierenden Anteil gerade am Inhalt des Symptoms. Wiederholung des traumatischen Ereignisses, immer wiederkehrende Alpträume, Schlafstörungen etc., was als ein wiederholter Versuch erscheint, das Trauma zu binden und abzureagieren; eine ähnliche Fixierung an das Trauma geht einher mit einer mehr oder weniger generalisierten Aktivitätshemmung des Subjekts. Diesem zuletzt genannten klinischen Bild behalten Freud und die Psychoanalytiker gewöhnlich die Bezeichnung traumatische Neurose vor“.

      Während wir heute die erste Konstellation eher als auslösendes Moment einer neurotischen Reaktion bezeichnen, gehört zu den differenziellen Merkmalen der traumatischen Neurose der inhaltliche Bezug zwischen traumatischer Situation und der jeweiligen Symptomatik.

      Unter den psychoanalytischen Autoren, die das Traumakonzept weiterentwickelt bzw. spezielle Bereiche der Traumatisierung näher erforscht haben, sind zu nennen Abraham Kardiner, Masud M. Khan, John Bowlby, Donald W. Winnicott, Max Stern, Henry Krystal und andere mehr (eine Übersicht bei Brett 1993). Kardiner verfasste sein Werk „The traumatic neuroses of war“ während des zweiten Weltkrieges im Jahre 1941. Seine klinische Erfahrung ging zurück auf die psychotherapeutische Arbeit mit amerikanischen Soldaten, die im Krieg gegen Nazi-Deutschland und Japan kämpften. Er war der erste, der die massiven physiologischen Begleiterscheinungen traumatischer Reaktionen schon in der Namengebung berücksichtigte, indem er von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ sprach. Kardiner formulierte ein Syndrom von Folgeerscheinungen, das in vielem bereits als Vorläufer des heutigen basalen PTBS gelten kann. Er übernahm die von Sandor Rado geprägte Sichtweise der Neurose als einer Form des Anpassungs- und Bewältigungsversuchs und wies darauf hin, dass es wichtig sei, den Sinn hinter den Symptomen zu entdecken, um die Folgeerscheinungen zu verstehen. Folgende Leitmerkmale wurden von Kardiner aufgeführt: 1. Schrumpfen oder Einengung des Ichs (ego contraction); 2. Ausgehen der inneren Ressourcen oder energetische Verarmung; 3. „disorganization“, was wir heute als Strukturverlust und evtl. auch Dissoziation bezeichnen würden.

      Die Symptomatik, die er im Einzelnen beschrieb, war sehr komplex. Sie konnte akut oder chronisch sein und bestand aus Ermüdungserscheinungen und Lustlosigkeit, Depressionen, schreckhaften Reaktionen, wiederkehrenden Alpträumen, Phobien und Ängsten, die situationsbezogen mit dem Trauma assoziiert waren, eine Mischung aus impulsivem Verhalten und Unbeständigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie eine Neigung zu Misstrauen, Verdächtigungen und Ausbrüchen von Wut und Gewalttätigkeit.

      Eine Erweiterung des Freudschen Traumakonzeptes findet sich bei Masud Khan mit seinem Begriff des → kumulativen Traumas (1963). Hier addieren sich Ereignisse und Belastungen, die jedes für sich subtraumatisch, d. h. unter der Schwelle der Traumatisierung im engeren Sinne verbleiben würden, zu einer insgesamt traumatischen Verlaufsgestalt. Immer wenn das Ich seinen Schutzschild, seine Reiz-Abwehr-Barriere wieder

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