Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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Konstitution des Wahrnehmungsgegenstandes im Akt der Wahrnehmung ist aber häufig demjenigen unzugänglich, der in einer „naiv“ empirischen, alltäglichen Einstellung auf die Gegenstände seiner Wahrnehmung und Handlungen ausgerichtet ist und dabei sich als den Handelnden und Wahrnehmenden vergisst.

      Diese reibungslose Ausrichtung auf Gegenstände und alltägliche Geschäfte wird nun durch seelische Verletzungen gefährdet. Eine Abwehrstrategie psychischer Traumatisierung besteht im Ignorieren und einer besonders intensiven Zuwendung zu den äußeren Geschäften des Alltagslebens. Das verletzte psychische System/die psychisch verletzte Persönlichkeit sucht die Verletzung nach Möglichkeit auszublenden und betreibt „business as usual“. Dieser Umgang mit psychischen Verletzungen und Kränkungen findet sich bei vielen traumatisierten Persönlichkeiten. Er scheint aber auch charakteristisch zu sein für den Umgang in der täglichen Lebenswelt mit dem Problem seelischer Verletzungen und spiegelt sich in einem „vulgärmaterialistischen“ Wissenschaftsverständnis ebenso wider wie im methodologischen Behaviorismus, einer Forschungsstrategie, die von Erlebnisphänomenen grundsätzlich absehen zu können glaubt. Das psychische Erlebniszentrum als Zentrum zugleich der seelischen Schmerzempfindung wird für unerkennbar, zur „black box“, erklärt. So beruhen auch manche Konzepte der in sich ja sehr heterogenen „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ auf Abwehrvorgängen gegen seelische Verletzungen und bedienen sich dabei ähnlicher Abwehrstrategien, wie verletzte Individuen, die sich reflexhaft vor der Wahrnehmung seelischer Schmerzen schützen.

      Tabelle 1: Normen und Ebenen der Wirklichkeit

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      Die einzelnen Elemente von Tabelle 1 wollen wir schrittweise erörtern. Zunächst zur Norm. Dabei unterscheiden wir drei unterschiedliche Normbegriffe: 1. die funktionelle Norm; 2. die statistische Norm; 3. die Idealnorm. Diese Unterscheidung ist in psychosozialen Fächern, wie der medizinischen oder klinischen Psychologie, weitgehend geläufig. Funktionelle oder strukturelle Normen vergleichen einen Ist-Zustand mit einem vorgegebenen Sollwert. Hierzu gehören z. B. die Blutdruckregulierung und viele andere Normwerte der körperlich-biologischen Selbstregulierung. Bei Abweichung von diesen Normwerten, bei einem Blutdruck über 140 zu 90 (systolisch vs. diastolisch), liegt ein Verdacht auf Hypertonie nahe, auf passager oder chronisch erhöhten Blutdruck. Dieser Wert kann ein Alarmsignal sein, das ein Eingreifen verlangt.

      Die meisten funktionalen Normen der biologischen Regulationsebene weisen größere interindividuelle Schwankungen auf innerhalb einer noch als „physiologisch“ zu bezeichnenden Schwankungsbreite. Funktionelle Normen beruhen im subatomaren Bereich auf statistischen Normen (2). Die funktionelle Norm setzt aber der statistischen Schwankungsbreite klare Grenzen. Eine Abweichung von diesen Grenzwerten ist dann potenziell pathologisch.

      Die Idealnorm (3) dagegen entspricht einer idealen Setzung, die weniger im biologischen und physikalischen, als vielmehr im psychosozialen Phänomenbereich anzutreffen ist. Ein Beispiel dafür sind Normen, Ziele und Verhaltensregeln, die eine Gesellschaft oder soziale Gruppe für ihre Mitglieder definiert bzw. die – handlungstheoretisch betrachtet – sich die Gesellschaftsmitglieder selbst auferlegen. Solche Normen können mehr oder weniger variabel sein. Es gibt ethische Normen, die man gleichsam zur „hardware“ gesellschaftlicher Systeme zählen muss. Man könnte sie als die „funktionale“ Norm einer Gesellschaft bezeichnen. So etwa die „goldene“ ethische Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Auch Kants kategorischer Imperativ stellt eine Variation dieser Regel dar. Die „funktionalen“ Normen der Gesellschaft sind aber – im Gegensatz zu den biologischen – nicht im genetischen Code verankert, sondern existieren in der Idee einer gerechten Gesellschaftsordnung als ideale Setzung und müssen auf dieser Ebene verwirklicht werden. Andere Vorschriften einer „idealen Norm“ erscheinen als mehr oder weniger willkürliche Setzungen und sind historisch und interkulturell variabel. Ein Beispiel ist der Umgang mit Homosexualität in der abendländischen Geschichte und in unterschiedlichen Kulturen. Während homosexuelle Beziehungen im griechischen Altertum unter gewissen Bedingungen als sozial wertvoll geschätzt wurden, wurde diese Form der Erotik später immer stärker diskriminiert bis hin zur Ermordung zahlreicher Homosexueller durch die Nazis.

      Da Idealnormen kulturgebunden sind, kann eine interessante Wechselwirkung mit statistischen Normen entstehen, die sich am Beispiel des Kinsey-Reports zum Sexualverhalten der Nordamerikaner zeigen lässt. Als Kinsey (der übrigens von Haus aus Bienenforscher war) seine Befragung in den USA durchführte, waren in vielen nordamerikanischen Staaten sexuelle Verhaltensweisen, nach denen Kinsey fragte, im Sinne einer „idealen“ normativen Setzung mit strafrechtlichen Sanktionen belegt. Oral-genitale Kontakte (Cunnilingus und Fellatio) wurden in einigen Staaten mit Zuchthaus geahndet. Kinsey fand heraus, dass die überwiegende Mehrheit der Erwachsenen solche Liebestechniken pflegte. Als in der Öffentlichkeit deutlich wurde, dass eine Bevölkerungsmehrheit demnach Zuchthausstrafen verdient hatte, wurden nun umgekehrt rechtliche Bestimmungen, die aus der unreflektierten Übernahme sexualfeindlicher religiöser Normen in das politische System eingegangen waren, mehr und mehr in Frage gestellt. Ideologen des jeweils herrschenden Gesellschaftssystems sind bemüht, ihre Interessen oder magischen Vorstellungen ihre „Idealnormen“ als unveränderliches „Naturgesetz“ hinzustellen und deren Anpassung an reale gesellschaftliche Lebensbedürfnisse zu verhindern.

      Bezüglich der verschiedenen Normtypen können wir festhalten: In den funktionellen oder strukturellen Normen wird ein Ist-Zustand verglichen mit einem vorgegebenen Soll-Wert. In der statistischen Norm wird der Ist-Zustand relativ zu einem Messwert bestimmt, zumeist in Abweichungseinheiten vom Mittelwert einer statistischen Verteilung. In dieser Verteilung von Messwerten müssen aber keineswegs Naturgesetze oder funktionale Normwerte zum Ausdruck kommen, ebenso gut können Zufallsphänomene oder gesellschaftliche Setzungen der beobachteten Verteilung zugrunde liegen. Bei der Idealnorm wird der Ist-Zustand verglichen mit einem gewählten Soll-Wert. Hierbei können Vorurteile oder auch rational begründete Idealvorstellungen wirksam sein. Ordnen wir die Normtypen unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen zu, wie dies in Tabelle 1, Abschnitt B geschieht, so gelten auf der physiko-chemischen Ebene die so genannten „Naturgesetze“ und entsprechend vor allem die Normen 1 und 2, die funktionelle und statistische Norm jeweils mit vorgegebenem Sollwert. Auf der biologischen Ebene gelten ebenfalls die Normen vom Typ 1 und 2; es kommen jedoch selbstregulative Systemeigenschaften bei vorgegebenem Sollwert hinzu, die sich auf der physiko-chemischen Ebene 1 noch nicht finden. Und schließlich tritt auf der psychosozialen Ebene zu den übrigen noch Regeltyp 3 hinzu, die Fähigkeit zur individuellen oder gesellschaftlichen Setzung von Sollwerten.

      Das Verhältnis der Wirklichkeitsebenen zueinander kann nun aufgefasst werden im Sinne der Emergenz (= Auftauchen) neuer Systemqualitäten oder der Supervenienz (= Überlagerung)

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