Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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die Kontinuität im Wandel. Sucht man z. B. im Sozialverhalten von Tieren nach Vorläufern menschlicher Verhaltensnormen, so trifft man auf eine breite Palette strukturell paralleler angeborener und auch erlernter Verhaltensweisen. Durch die Fähigkeit des Menschen, in Gruppenentscheidungen oder Gesetzgebungsverfahren bewusst überlegte Regeln zu setzen, gewinnen jedoch auch die angeborenen sozialen Verhaltensweisen beim Menschen eine neue Systemqualität. Sie können zu deren gestaltbildenden Prinzipien beispielsweise in Widerspruch treten und dadurch konflikthafte Verhältnisse schaffen, die auf der biologischen Ebene noch nicht möglich waren. Ein Bewertungskriterium stellt die mehr oder weniger gelungene Integration der Ebenen dar. Es gelten auf den höheren immer auch die Regeln und Gesetzmäßigkeiten aller niedrigeren Ebenen. Diese werden jedoch in die neue Systemqualität einbezogen, in ihrer bisherigen Geltung relativiert und können mit dem neuen system- oder „gestaltbildenden“ Prinzip (im Sinne der Gestalttheorie) in ein integratives bzw. mehr oder weniger widersprüchliches Verhältnis treten.

      Da der Mensch die Fähigkeit zu einer Wahl von „Sollwerten“ besitzt, entstehen auf der psychosozialen Ebene zwei Varianten von funktionellem Fehlverhalten: die Dysfunktionalität von Mitteln gegenüber gesetzten Zielen und die Dysfunktionalität oder Irrationalität von Zielsetzungen selbst. Im neurotischen → Wiederholungszwang beispielsweise werden oft wohlbegründete und wertvolle Ziele verfolgt, jedoch mit Mitteln und Verhaltensweisen, die systematisch das Gegenteil des bewusst Intendierten bewirken. Auf der anderen Seite gibt es die zweckrationale Verwirklichung noch der irrationalsten Zielsetzungen wie beispielsweise die perfekte Organisation des Holocaust und anderer Genozide. Irrationale Zielsetzungen können in Motiven begründet sein wie bei antisozialem Verhalten und manchen Perversionen, die sich der bewussten Selbstwahrnehmung der Persönlichkeit entziehen. Mit der Zunahme von Möglichkeiten der Handlungsplanung und Entscheidungsfreiheit beim Menschen entsteht zugleich ein neuartiges Spektrum seelischer Störungen und Verletzbarkeiten.

      Tabelle 1 beruht auf einer Zuordnungsregel zwischen Normen und Wirklichkeitsebenen, die gewissermaßen von „oben“ nach „unten“ gelesen werden muss. Naturwissenschaftlicher → Reduktionismus (Annahme C) verstößt gegen diese Zuordnungsregel und besteht in der Annahme, dass sich die Systemebenen 3 bzw. 2 ohne Informationsverlust auf die Ebenen 2 bzw. 1 zurückführen oder reduzieren lassen. Ein solcher epistemiologischer Reduktionismus folgt der verbreiteten Tendenz zur Reduktion komplexer Fragestellungen. Eine Form davon ist der sog. „Vulgärmaterialismus“, die Annahme, dass unsere psychische Informationsverarbeitung identisch sei mit den physiko-chemischen Prozessen der Gehirnfunktion (Reduktion von Psychologie auf Physiologie, Biochemie und Biophysik).

      Wir wollen jetzt diese Überlegungen zum Aufbau der Wirklichkeit und zur Eigenart jener Regeln, welche die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen beherrschen, kritisch auf die früher erwähnte Analogie von körperlichen und seelischen Verletzungen anwenden. Betrachten wir seelische Verletzungen ausschließlich oder vorwiegend analog zu körperlichen, so entspricht dies einer Kurzführung oder – bild-lich gesprochen – einem „Kurzschluss“ zwischen den Ebenen 3 und 2. Damit würden wir die Eigengesetzlichkeit der Ebene 3 verfehlen. Der Gesichtspunkt andererseits, der Emergenz oder Supervenienz bzw. der einer dialektischen „Integration“ der niedrigen in die höhere Systemebene, berechtigt uns dazu, der Analogie zwischen somatischen und psychischen Verletzungen eine relative Berechtigung zuzuschreiben. Wollen wir allerdings der spezifisch menschlichen Qualität von Verletzbarkeit, der → Psychotraumatologie im engeren Sinne, Rechnung tragen, so müssen wir das spezifisch menschliche Welt- und Selbstverhältnis zentral in unsere Überlegungen einbeziehen. Definitionen und Konzepte, die dieses leisten, sind in der Psychotraumatologie den „organologischen“, körperbezogenen Analogien und Metaphern, so wertvoll diese als Verständnisbrücken auch sein mögen, vorzuziehen. Wir müssen beispielsweise berücksichtigen, dass die Verletzung der menschlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung – ein Konzept der „psychosozialen Ebene“ (3) – eine spezifische traumatische Erlebnisqualität besitzt, die wir auf Ebene 2 möglicherweise noch nicht in gleicher Form antreffen. Eine Frau, die Opfer einer Vergewaltigung wurde, wird nicht nur in den Bereichen der biologischen Selbstregulierung gestört und verletzt, sondern auch und vor allem in ihrem Recht auf und ihrer Fähigkeit zu sexueller Selbstbestimmung. Eine nicht-reduktionistische Definition von Trauma muss daher dem Entfaltungsspielraum der menschlichen Individualität und der menschlichen Fähigkeit zur sozialen Setzung, Einhaltung, aber auch Überschreitung normativer Regelungen Rechnung tragen. Traumatische Ereignisse und Erfahrungen führen beim Menschen zu einer nachhaltigen Erschütterung seines Welt- und Selbstverständnisses (→ Trauma). Die Reorganisation und Restitution von Selbst- und Weltverständnis ist wesentlicher Bestandteil der spezifisch menschlichen Traumaverarbeitung. Dieser Prozess folgt Gesetzmäßigkeiten, die sich bei Tieren nicht identisch beobachten lassen, obgleich traumatogene Situationen im Tiermodell in erstaunlicher Weise den menschlichen gleichen (s. Kap.3.1.2, Situationstypologie im Tierversuch). Organische Metaphern, die nicht in einem Mehr-Ebenen-Modell zugleich auch relativiert werden, besitzen oft eine Pseudoplausibilität und können nähere Verständnisbemühungen vorzeitig abblocken. Fortschritte der Psychotraumatologie sind insbesondere vom Bemühen zu erwarten, die menschliche Perzeption, Beantwortung und Verarbeitung traumatischer Situationen in ihren kognitiven, emotionalen und motivationalen Aspekten immer genauer zu verstehen.

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      Erklärung: Doppelpfeil für Übersetzungsprozesse, einfacher Pfeil für Aufwärts- bzw. Abwärtseffekte. Weitere Erläuterungen im Text.

      Neben der begrenzten Geltung somatischer Metaphern muss die Psychotraumatologie so genannte „Mehr-Ebenen-Effekte“ berücksichtigen, die sich über die physiko-chemische, biologische und psychosoziale Ebene hinweg fortpflanzen, und zwar in beide Richtungen. Thure von Uexküll und Paul Wesiack sprechen in ihrer Arbeit zur „Theorie der Humanmedizin“ (1988) von Aufwärts- und Abwärtseffekten. Abbildung 2 zeigt das Modell der Systemebenen nach Thure von Uexküll (1988, 171, modifiziert von uns).

      Ein psychosoziales Trauma, etwa ein → Beziehungstrauma, kann physiologische Regelkreise einbeziehen und einen dauerhaften Überlastungszustand dieser Systemebene unter Einschluss biochemischer und biophysikalischer Subsysteme nach sich ziehen. Umgekehrt können sich in traumatischen Überlastungssituationen und im Anschluss daran die Funktionsbedingungen von ZNS und autonomem Nervensystem derart verändern, dass es relativ unabhängig vom im engeren Sinne psychischen Prozess der Traumaverarbeitung zu einem „Kurzschluss“ zwischen den Ebenen 1, 2 und 3 kommt: die physiologische Reaktionsebene wird von der psychischen weitgehend abgekoppelt. In diesem Sinne sprach schon Abraham Kardiner (1941) von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ (im Unterschied zu den sog. Psychoneurosen).

      Eine interessante Hypothese ist, dass extreme traumatische Belastungssituationen regelmäßig einen solchen „Kurzschlusseffekt“ ausüben, indem sie die Ebenen des ontologischen Stufenmodells in pathologischer Weise zusammenführen. Die Folge ist, dass Naturgesetze und funktionale Normen, die normalerweise nur auf den Ebenen 1 und 2 Geltung haben, nun plötzlich auch die psychosoziale Ebene regieren. Das Trauma kann eine künstliche „Physiologisierung“ der psychosozialen Systemebene bewirken. Die Fähigkeit zur freien Bestimmung von Sollwerten und Handlungszielen wird dann tendenziell außer Kraft gesetzt. Im engeren, vom Trauma bestimmten und verzerrten Persönlichkeitsbereich folgt das Individuum funktionellen bzw. statistischen Normen und wird durch die traumatische Reizkonstellation so vollständig beherrscht, wie es das Reiz-Reaktions-Schema im klassischen → Behaviorismus vorsieht. Dies insbesondere in Erlebens- und Verhaltensbereichen, die vom → Wiederholungszwang betroffen sind und Tendenzen der → Traumatophilie unterliegen. Die Erklärung kann hier aber immer nur eine quasi-physiologische sein. Auch hier setzt die umfassende Erklärung an bei der traumabedingten Modifikation von Qualitäten der psychosozialen Systemebene. Die Möglichkeit, Handlungsziele und Werte innerhalb des von den Ebenen 1 und 2 freigelassenen „Spielraums“

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