Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer страница 11

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

Скачать книгу

An Texten von Kafka zeigt die Autorin in sehr subtiler Weise Mechanismen literarischer Traumadarstellung und -verarbeitung auf. Eine Übersicht über psychoanalytische Beiträge zur Literaturtheorie und -forschung bietet das Kompendium von Pfeifer (1989). Psychologisch-historische Forschungsansätze wie etwa die „Geschichte der Kindheit“ von DeMause (1977) haben unser historisch vergleichendes und systematisches Wissen über traumatische Lebensbedingungen in der Kindheit sehr erweitert.

      An der „Ilias“, einem Kriegsbericht aus dem europäischen Altertum lässt sich zeigen, dass Homer, der „Geschichtsschreiber“ und Dichter, traumatische Reaktionen eindringlich zu schildern verstand. Shay (1991) macht darauf aufmerksam, dass die Ilias ein Kriegstrauma detailliert beschreibt und auch Wege zu seiner Überwindung aufzeigt. Der bedeutendste Held der Griechen, Achilles, entwickelt im Kampf vor Troja psychotraumatische Symptome, die recht genau denen, die wir heute kennen, entsprechen.

      Shay nennt folgende Merkmale dieser besonderen Form von Kriegstraumatisierung: ein Erlebnis von Verrat oder ein Verstoß gegen das, was der Soldat als sein gutes Recht betrachtet; enttäuschter Rückzug auf einen kleinen Kreis von Freunden und Kameraden; Trauer- und Schuldgefühle wegen des Todes eines besonders befreundeten Kameraden; Lust auf Vergeltung; nicht mehr heimkehren wollen; sich wie tot fühlen; dann eine berserkerartige Raserei mit Entehrung des Feindes und extremen Grausamkeiten. Einzelne Symptome oder auch das gesamte Syndrom finden sich gehäuft in den Berichten von Kriegsteilnehmern, die nach ihrem Einsatz ein psychotraumatisches Belastungssyndrom entwickeln.

      Achilles gerät mit dem Heerführer der Griechen, Agamemnon, in Streit, nachdem ihm dieser seine Lieblingssklavin Briseis genommen hatte, welche Achilles für besondere Tapferkeit als Beute zugesprochen worden war. Achilles zieht sich schmollend zurück und pflegt eine intensive Freundschaft mit Patroklos. Als dann die Griechen von den Trojanern immer stärker in die Defensive gedrängt werden, bittet Agamemnon den Achilles als den tapfersten und bewährtesten Krieger, seinen Rückzug aufzugeben, in die Schlacht einzugreifen und das griechische Heer zu retten. Achilles weigert sich und lässt statt dessen seinen Freund Patroklos kämpfen. Diesem gelingt es, die Trojaner zurückzuschlagen. Schließlich wird Patroklos jedoch von Hektor, dem tapfersten Kriegshelden der Trojaner getötet.

      Als Achilles die Botschaft von Patroklos̓ Tod überbracht wird, verfällt er in einen affektiven Ausnahmezustand mit extremen Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und heftiger Trauer, den Homer folgendermaßen beschreibt:

      „Patroklos liegt nun tot und sie kämpften bereits um den Leichnam. Nackt wie er ist; denn die Waffen besitzt der geschmeidige Hektor. Sprach̓s (der Bote) und jenen (Achilles) umfing die finstere Wolke der Trauer. Gleich mit den beiden Händen den Staub, den geschwärzten ergreifend, überstreut er den Kopf und entstellt er sein liebliches Antlitz. Asche haftete rings am Nektar duftenden Kleide. Selbst aber lag er groß, lang niedergestreckt in dem Staube, raufte sein Haar und beschmutzt̓ es sogleich mit den eigenen Händen“ (Homer, Illias, 18. Gesang, Vers 20, Übers. Hans Rupe: 1990, 387).

      Seiner Mutter Tetis, die ihn trösten will, schwört Achilles, nicht eher aus dem Kriege zurückzukehren, bis er den Tod seines Freundes Patroklos an Hektor gerächt habe. Er verfällt darauf in eine raptusartige, berserkerhafte Raserei, worin er alle Rücksichten vergisst und viele Trojaner tötet, schließlich auch Hektor, den Mörder seines Freundes.

      Shay beschreibt diesen berserkerhaften Ausnahmezustand als Verlust von Furcht und jedem Gefühl eigener Verletzlichkeit; es wird keine Rücksicht auf die eigene Sicherheit genommen; eine übermenschliche Kraft und Ausdauer entwickelt sich; Wut, Grausamkeit ohne Einhalten oder Unterscheidungsfähigkeit; eine Übererregtheit des autonomen Nervensystems, von den Betroffenen oft beschrieben als „Adrenalinrausch“ oder „als käme Elektrizität aus mir heraus“ (570).

      So ergeht es auch dem Achilles. Er steigert sich immer weiter in sein rauschhaftes Racheerleben hinein und scheut nicht einmal davor zurück, den Leichnam des getöteten Gegners, des Helden Hektor zu entehren und ihm die Bestattung zu verweigern. Schließlich erscheint Hektors Vater Priamos, der schon dem Tode nahe ist und bittet Achilles, seinen Sohn herauszugeben. Nach langer Debatte geht dieser schließlich auf die Bitte ein und kehrt so zur Normalität der damaligen Kriegssitten zurück, in denen die Entehrung des toten Feindes dem stärksten Tabu unterlag. Jetzt gibt Achilles auch seinen sozialen Rückzug auf und wird wieder zu einem „normalen“ griechischen Krieger.

      Achilles̓ gefährlicher Ausnahmezustand begann demnach mit einer Verletzung von Regeln und Gebräuchen, die im damaligen Griechenland heilig waren. Shay hat in seiner Arbeit mit kriegstraumatisierten Vietnamveteranen beobachtet, dass ein Verstoß gegen geschriebene oder ungeschriebene Regeln selbst in Kriegszeiten, in denen viele der sonst gültigen Normen außer Kraft gesetzt sind, einer späteren psychotraumatischen Belastungsstörung vorausgegangen war. Paradox genug macht sich die traumatische Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis, die wir unserer Traumadefinition zugrunde legen, selbst unter den weitgehend anomischen Bedingungen des Krieges als besonderer traumatogener Faktor bemerkbar.

      Unter den wissenschaftlichen Pionierleistungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen, sind u. a. der sehr eigenständige Ansatz von Janet zu nennen, die Psychoanalyse und die auf den schwedischen Internisten Selye zurückgehende Stress- und → Copingforschung. Pierre Janet (1859-1947) und Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse, waren Zeitgenossen. Während Freud und sein Werk vor allem auch für den therapeutischen Umgang mit Traumatisierung historisch sehr bedeutsam wurde, blieben Janets Arbeiten lange Zeit ohne großen Einfluss, wurden dann aber in ihrer Pionierrolle für die Psychotraumatologie gewürdigt. Van der Kolk et al. (1989), die sich mit Janet als einem Vorläufer der modernen Psychotraumatologie befassen, bemerken dazu:

      „Es ist eine Ironie, daß in den ausgehenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Psychiatrie erst langsam eine Wissensbasis wiederentdeckt über die Auswirkung von Traumatisierung auf psychologische Prozesse, die zentral war in den europäischen Konzeptionen der Psychopathologie während der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts“ (Übers. die Verf., 365).

      Demnach hat es beinahe 100 Jahre gedauert, bis die Arbeiten Janets wieder die Bedeutung erlangten, die sie für Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie um die Jahrhundertwende hatten. Janet hatte seinerzeit ebenso wie zeitweilig auch Freud, mit dem berühmten Hypnosearzt Charcot an der Pariser Salpetriere zusammengearbeitet. Aus den Hypnoseexperimenten und den therapeutischen Ansätzen Charcots ging hervor, dass zahlreiche psychopathologische Auffälligkeiten und Symptombildungen, unter denen die psychiatrischen Patienten litten, mit verdrängten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse zusammenhingen. Janet zog als erster den Begriff der → Dissoziation als Erklärungskonzept heran. Dissoziationen ergeben sich nach Janet als Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung traumatischer, überwältigender Erlebnissituationen. In seiner Arbeit „L̓automatisme psychologique“ (1889) führt er aus, dass die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung oft nicht angemessen verarbeitet werden kann: sie wird daher vom Bewusstsein abgespalten, dissoziiert, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzuleben, entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten. Die nicht integrierbaren Erlebniszustände können im Extremfall zur Ausbildung unterschiedlicher Teilpersönlichkeiten führen, was der dissoziativen Identitätsstörung entspricht. Janet hat als erster Gedächtnisstörungen beschrieben, die mit Traumatisierung einhergehen. Er erklärte postexpositorische Amnesien oder Hypermnesien (übergenaue Erinnerungsbilder) als eine Art Übersetzungsfehler, als Unfähigkeit, die traumatische Erfahrung in eine weniger furchterregende Erzählung übertragen zu können (Janet 1904).

      Die Unterscheidung verschiedener Repräsentationsformen des Gedächtnisses, wie sie auch in der modernen kognitiven Forschung üblich ist, in enaktiv (verhaltensgesteuert), ikonisch (bildhaft) und symbolisch-linguistisch (Kihlstrom 1984) hat Janets Student Jean Piaget aufgegriffen und auf die

Скачать книгу