Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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erwähnen sind auch die Ausführungen von D. W. Winnicott – eines Londoner Kinderarztes und Psychoanalytikers – zum Trauma und zur Auswirkung von Traumata, dessen Werk zu den gedankenreichsten der Psychoanalyse zählt. Winnicott geht davon aus, dass die frühkindliche Entwicklung nur dann ungestört verläuft, wenn das Kind in der frühesten Lebensperiode auf eine Umwelt trifft, die seine noch unentwickelten Möglichkeiten so optimal ergänzt, dass es sich der Illusion kindlicher Allmacht, einer völligen Verfügungsgewalt über die psychosoziale Umgebung überlassen kann. Allein diese Allmachtillusion ermöglicht eine selbstbewusste Entwicklung, die dem Kind die Gewissheit vermittelt, seine Umweltbedingungen kreativ gestalten zu können. Auch wenn die Illusion später schrittweise abgebaut wird, bleibt sie doch die Grundlage späterer „Selbsttätigkeit“ („self efficacy“ in der „sozial-kognitiven Lerntheorie“ von Bandura 1976) und schöpferischer Leistungen, welche die sozial und physikalisch vorgegebene Umwelt nicht passiv hinnehmen, sondern sie auf die menschlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten hin ausgestalten. Durch Versagen der Umwelt oder durch Übergriffe gegenüber dem Kind kommt es zu einer Minitraumatisierung, welche die kindliche Allmachtphantasie zerstört und eine verfrühte → Desillusionierung bewirkt. Statt einer „genügend guten“ Umgebung, die sich in ausreichendem Maß den kindlichen Bedürfnissen anpasst, muss nun umgekehrt das Kind sich seiner Umgebung anpassen, was es in dieser frühen Periode überfordert. So kommt es zum Aufbau eines falschen Selbstsystems, worin das Subjekt sich den Umweltanforderungen unterwirft und dabei oft lebenslang begleitet ist von einem Gefühl der Fremdheit und inneren Leere, der Empfindung, in seinen Handlungen selbst nicht wirklich präsent zu sein (Winnicott 1954; Schacht 1996).

      Ein Autor, der in einem psychoanalytischen Verständnishorizont arbeitet, ausgebildeter Analytiker war und psychoanalytische Konzeptionen eigenständig weiterentwickelt hat, ist John Bowlby. Er war einer der ersten Psychoanalytiker, die empirische Forschung mit psychoanalytischer Theorie und Praxis verbanden. So entstand das auch heute noch bedeutendste Standardwerk zum → Deprivationstrauma. In den drei Arbeiten „Separation“, „Bounding“ sowie „Loss, Mourning and Depression“ (1976, 1987) hat Bowlby Forschungen und Konzepte zur Auswirkung von frühkindlicher Deprivation wie z. B. früher Elternverlust, häufig wechselnde Beziehungserfahrungen und Trennungstraumata zusammengefasst. Bowlby verbindet psychoanalytisches Gedankengut und die subtilen Beobachtungen, die in der psychoanalytischen Situation möglich werden mit einer Vielzahl anderer Ansätze, von kognitiver Entwicklungspsychologie über neurobiologische Konzepte und Verhaltensbiologie bis hin zur Soziologie, → Epidemiologie und Kulturgeschichte. Auch in methodischer und methodologischer Hinsicht kann Bowlbys Werk als Vorbild für die Psychotraumatologie betrachtet werden.

      Max Stern (1988) sieht die unmittelbare Folge von massiver Traumatisierung in einer katatonoiden Reaktion einerseits, einem Erstarren und in einem agitierten Bewegungssturm andererseits. Dies sind die ersten Notfallreaktionen auf massive psychische Traumatisierung. H. Krystal (1968) greift die katatonoide Reaktion von Stern auf und sieht sie als Folge von massiver anhaltender psychischer Traumatisierung. In diesen Zuständen, in der so genannten katastrophischen Reaktion, verfällt das Individuum in völlige Hilflosigkeit. Hier ergibt sich eine Parallele zum Konzept der erlernten → Hilflosigkeit nach Seligman. Die katatonoide Reaktion auf ein katastrophisches Trauma kann zur Aufgabe aller Selbsterhaltungsfunktionen und somit, im übertragenen Sinne, zum psychogenen Tod führen. In der Psychoanalyse war Krystal der erste, der zwischen massiver katastrophischer Traumatisierung und leichteren Formen des Traumas deutlich unterschieden hat.

      Eine dritte Forschungsrichtung, die zur Entstehung der Psychotraumatologie wesentlich beigetragen hat, ist die Stressforschung mit den Pionierarbeiten von Selye. Selye näherte sich der Frage belastender Umweltfaktoren als Internist unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Reaktionen und der Krankheiten, die durch kurz- oder langfristige Belastung hervorgerufen werden können. Im Jahre 1936 formulierte er sein Modell der → Stressreaktion mit den drei Phasen des Alarms, des Widerstandsstadiums und schließlich des Erschöpfungsstadiums. Die Alarmreaktion ist gekennzeichnet durch einen erhöhten Sympathicotonus und eine sympathicoton gesteuerte „Bereitstellungsreaktion“, bei der der Energieumsatz erhöht und ATP-Reserven freigesetzt werden. Im Widerstandsstadium werden denn diese Reserven des Körpers genutzt, um die massive Belastung kompensieren zu können. So kommt es physiologisch etwa zur Produktionssteigerung von Nebennierenhormonen wie Cortisol und zur Erhöhung des Blutzuckerstoffwechsels. Dauert der dann pathogene Umweltreiz, der „Stressor“, wie Selye ihn nannte, weiter an, so treten massive und zum Teil irreversible Folgen auf wie Dekompensation der Reproduktionsfunktionen und Sexualfunktionen, der Wachstumsvorgänge und der Immunkompetenz. Ebenfalls kann andauernder Stress in klinisch relevantem Maße die Wundheilung beinträchtigen (Gouin 2011). Als Extrembeispiel können die nach den langdauernden Stellungskriegen beobachteten „Kriegszitterer“ gelten. Unter dem dauerhaft fortgesetzten extremen Stress entwickelte sich ein Syndrom, das zum Teil schwersten Tremor bis hin zur Gangunfähigkeit beinhaltete.

      Selye unterteilte die Umweltreize in Stressoren mit positiver versus negativer Bedeutung für den Organismus. Die positiven nannte er Eustress (von altgr. eu = wohl, gut), die negativen Disstress (von altgr. dys = schecht). Er ging davon aus, dass die organismische Reaktion auf negative Stressoren gleichförmig sei. Diese Annahme konnte erst in letzter Zeit physiologisch widerlegt werden. So ergaben etwa Untersuchungen, die Weiner (1984) zusammenfasst, dass eine differenzielle physiologische Reaktion auf verschiedenartige Umweltsituationen schon im Tierversuch zu beobachten ist. Weiner bezeichnete das 3-phasige Verlaufsmodell der Stressreaktion nach Selye auch als generelles Adaptationssyndrom (GAS), das umweltabhängig spezifische Varianten aufweisen kann.

      Die Untersuchungen Selyes haben sich für die Erforschung der Psychosomatik innerer Krankheiten sehr fruchtbar ausgewirkt. Zumal Selye auch schon psychologische Symptome beschrieben hat, die dem physiologischen Stressverlauf entsprechen, kann man diese Forschungsrichtung insgesamt als wichtigen Beitrag zu einer psychologischen und psychosomatischen Traumatologie bezeichnen. Das Ungleichgewicht zwischen Organismus und Umwelt wurde in seinen Folgen auf verschiedenen Ebenen des psychophysischen Weltverhältnisses erforscht – eine Konstellation, die im Modell des → Situationskreises nach Thure v. Uexküll und Wesiack veranschaulicht werden kann, das wir im Abschnitt 2.2 zur Darstellung traumatischer Situationserfahrungen verwenden.

      Da Selye einen „Reiz“, den Stressor und andererseits eine organismische „Reaktion“, die Stressreaktion als Bezugspole seines Modells gewählt hatte, wurde die Stressforschung, besonders innerhalb der nordamerikanischen Psychologie und Medizin über lange Zeit nach dem → behavioristischen Reiz-Reaktions-Modell fortgeführt. In dieser Interpretation „bewirkt“ der Stressor als Reiz unmittelbar die Stressreaktion und schließlich die Krankheit, eine Vereinfachung gegenüber einem → ökologischen Verständnis der Subjekt-Objekt-Beziehung, die zwar, und das ist der für die Traumaforschung wertvolle Aspekt des Modells, zur Analyse von Umweltfaktoren anregt, aber dem subtilen Zusammenspiel von Subjekt und Objekt im Erleben von Stress und Trauma zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Erst im Zuge der sog. kognitiven Revolution gegenüber dem → Behaviorismus entstand eine differenziertere Konzeption der Subjekt-Umwelt-Beziehung, wie zum Beispiel im sog. „transaktionalen Stressmodell“ nach Lazarus (1984). Organismus und Umwelt werden hier als aufeinander bezogene Größen gefasst, eine Vorstellung, die sich einer ökologischen und dialektischen Konzeption, von der wir ausgehen, zumindest annähert. Dementsprechend wurden jetzt auch subjektive „Vermittlungsgrößen“ wie z. B. → Abwehr- und → Copingprozesse berücksichtigt. Es entstand eine Forschungsrichtung, die salopp als „Stress- and Coping-Approach“ bezeichnet wird. Hierin verbinden sich kognitiv-behaviorale Ansätze mit Konzepten der Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie. Der „Stress und → Coping“-Zugang ist neben der Psychoanalyse eine der Strömungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen. Faszinierend ist die Beobachtung, dass Forschungsrichtungen mit zunächst völlig unterschiedlichem Ausgangspunkt und unterschiedlichen Begriffssystemen sich zunehmend auf die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt zu konzentrieren beginnen, sobald sie sich mit Phänomenen der Traumatisierung befassen. Von daher sollte

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