Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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sind häufig durch eine veränderte Zielorientierung bestimmt, in der Sphäre der Mittel zur Zielverwirklichung wie auch der gesetzten Ziele selbst (vgl. die beiden Typen von „Dysfunktionalität“ in Tabelle 1, Abschnitt B3). Sie erwecken den Anschein rein „biologisch“ gesteuerter Abläufe und könnten dem biologischen Reduktionismus Vorschub leisten. Unser Mehr-Ebenen-Modell kann aber verdeutlichen, dass der biologische Determinismus keine primäre Gegebenheit ist, sondern sich dem traumatischen Verlust selbstregulativer Eigenschaften der psychosozialen Ebene verdankt.

      Aus den Überlegungen dieses Abschnitts folgt für die Psychotraumatologie, dass sie mit Begriffen arbeiten muss, die der psychosozialen Ebene und ihrer Verletzlichkeit in besonderer Weise angemessen sind. Wir werden dafür später einige Konzepte vorschlagen wie „Traumaschema“, „traumakompensatorisches Schema“ oder „Desillusionierungsschema“, um die Desorientierung und die Versuche zur Reorientierung zu analysieren, die traumatische Erfahrungen in der Regel auslösen. Organische Metaphern und parallel zu ihnen die Ansätze biologischer Traumaforschung zeigen die verletzten funktionalen Normen der biologischen Wirklichkeitsebene auf und sind insofern für die Traumaforschung unentbehrlich. Als Rahmenkonzepte hingegen eignen sie sich nicht. Letztere müssen der psychosozialen Ebene entstammen und deren Eigenheiten zum Ausdruck bringen. Andernfalls würde Psychotraumatologie auf (somatische) Traumatologie reduziert und es ergäbe sich eine weitere Variante des naturwissenschaftlichen Reduktionismus. Psychotraumatologie verlangt, seelische Verletzungen des Menschen bis in seine Biosphäre hinein zu verfolgen und die Erscheinungen des Traumas auch aus der Verletzung der dort geltenden Regelsysteme zu erklären. Als Psycho-Traumatologie erhält die Traumaforschung jedoch den umfassenderen Bezug zum Welt- und Selbstverhältnis des Menschen aufrecht und thematisiert damit zugleich die spezifisch menschliche Form von Verletzlichkeit.

      1.3 Zur Geschichte der Psychotraumatologie

      Verschiedene wissenschaftliche Konzepte zur Erklärung und Heilung psychischer Traumata sind bei historischen Anlässen entstanden. Das Konzept der „traumatischen Neurose“ wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und im 1. Weltkrieg ausgebaut, als die Psychiatrie mit den Opfern von Kriegsneurosen konfrontiert war. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit psychischer Traumatisierung wurde nach dem 2. Weltkrieg durch Überlebende des Holocaust angeregt. In den Entschädigungsverhandlungen vertraten vor allem deutsche Psychiater die These, KZ-Folgeschäden seien maßgeblich auf die erbliche Veranlagung der Betroffenen zurückzuführen. Pross (1995) hat dieses unrühmliche Kapitel der deutschen Nachkriegspsychiatrie unter dem Titel „die Verfolgung der Verfolgten“ medizingeschichtlich aufgearbeitet. Die unsinnige Argumentation hat in der Folgezeit jedoch zu verstärkten Forschungsbemühungen geführt, die unsere Kenntnis der Traumafolgen allmählich auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.

      Ein weiteres historisches Ereignis, das zur Entwicklung der Psychotraumatologie beitrug, war der Vietnamkrieg. Viele Kriegsveteranen entwickelten psychopathologische Auffälligkeiten. Sie mussten in eigenen Anlaufstellen und „veteran-centers“ betreut werden. Aus der Arbeit der Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter und Pädagogen mit dieser Klientel erwuchs allmählich ein immer detaillierteres Wissen über den Zusammenhang zwischen Kriegssituation und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, das u. a. zur Formulierung des sog. „posttraumatischen Stresssyndroms“ (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) geführt hat. Auch Naturkatastrophen haben die Traumaforschung verstärkt, wie etwa die Flutkatastrophe bei Buffalo Creek in West-Virginia im Jahre 1972. Aus der ersten Hilflosigkeit gingen intensive Forschungsarbeit und therapeutische Bemühungen um die Opfer hervor.

      Neben Naturkatastrophen und Kriegen sind als Anstoß für die psychotraumatische Forschungsarbeit auch soziale Bewegungen zu nennen, vor allem solche, die sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wenden. Die Arbeiterbewegung und andere emanzipatorische Strömungen haben ausbeuterische Arbeitsverhältnisse angeprangert, zur Humanisierung der Arbeit beigetragen und zusammen mit den geistigen Kräften der Aufklärung die Abschaffung der Kinderarbeit in Europa erreicht. Seit der Französischen Revolution wurde die Folter in aller Welt geächtet. Die Frauenbewegung hat immer wieder verdeckte Gewaltverhältnisse gegen Frauen und Kinder an die Öffentlichkeit gebracht. Initiativen gegen Kindesmisshandlung und sexuellen Kindesmissbrauch sowie allgemein gegen Unterdrückung und Benachteiligung von Kindern sind zu erwähnen, ferner Befreiungsbewegungen sozial unterdrückter Minderheiten und Völker oder Initiativgruppen, die sich mit diesen Befreiungskämpfen solidarisierten. Im Folgenden wenden wir uns zunächst der „natural history“ zu und kehren dann zur wissenschaftlichen Traumadiskussion zurück.

      Um diese Geschichte zu schreiben, müssen wir uns vor allem mit den kulturellen Erfindungen der Menschheit befassen. Manche Rituale, Sitten und Gebräuche entstammen der Not, mit psychischer Traumatisierung zurechtzukommen. Trauerrituale, die in allen Zeiten und bei allen Völkern verbreitet sind, können hier als Beispiel gelten. Mythen, Religionen, später auch Literatur und Philosophie sind voll von Auseinandersetzung mit Leiden und Tod und dem Eindruck, der Prägewirkung, den diese bei den betroffenen Menschen hinterlässt (→ Todesprägung). Letztlich sind die Menschen in ihren kulturellen Schöpfungen bemüht, eine Antwort zu finden auf die Sinnfrage, welche Leiden, Tod, soziale Gewalt und Naturkatastrophen aufwerfen. Vor allem vom Umgang der Dichterinnen und Dichter mit diesen Problemen kann eine wissenschaftliche Psychotraumatologie lernen. Dichter haben immer wieder traumatisierende Lebensumstände beschrieben und Möglichkeiten der Betroffenen, in ihnen zu überleben. Oft hatte die Darstellung aufrüttelnde und sozial verändernde Auswirkungen. Ein Beispiel ist der Roman „Oliver Twist“ von Charles Dickens. Darin wird einmal die psychische Situation eines Jungen beschrieben, der seine Eltern verloren hat. Sozialkritisch wird zudem dargestellt, wie soziale Einrichtungen, die diese schwere Lebenslage mildern sollen, zusätzlich noch zur Erniedrigung und Traumatisierung der Betroffenen beitragen können. Viele Märchen handeln vom Umgang mit Traumen und von Möglichkeiten ihrer schrittweisen Überwindung (vgl. etwa die Untersuchung von „Prinz Eisenherz“ bei Holderegger 1993)

      Ein anderer Zugang zur Kulturpsychologie des Traumas besteht darin, das Lebenswerk kreativer Künstler, von Dichtern und Schriftstellern etwa, auf die Traumabewältigung hin zu untersuchen, die in ihrer literarischen Schöpfung zum Ausdruck kommt. Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre beispielsweise hatte um das erste Lebensjahr ein schweres → Deprivationstrauma erlitten, dessen Auswirkung sich bis in seine berühmte Autobiographie „les mots“ (1965) und die Entwürfe seiner Philosophie aufzeigen lässt (Fischer 1992). Wie viele andere Künstler ist Sartre ein Beispiel für kreative Traumabewältigung. Solche Beispiele werfen ein Licht auf die soziale Funktion von Kunst und Philosophie, deren Beitrag zu einem kreativen und kulturell tradierbaren Umgang mit Traumatisierung von den Kulturwissenschaften gerade

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