Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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Ansatz Janets hat Piaget allerdings nicht weiterverfolgt. Bedeutsam auch heute noch für die Psychotraumatologie ist Janets Entdeckung, dass traumatische Erfahrungen, die nicht mit Worten beschrieben werden können, sich in Bildern, körperlichen Reaktionen und im Verhalten manifestieren. Der „unaussprechliche Schrecken“, den das Trauma hinterlässt, entzieht sich den höheren kognitiven Organisationsebenen, hinterlässt aber seine Spuren auf elementaren, → semiotisch niedrigeren Repräsentationsstufen. Wir bezeichnen diese psychische Struktur mit Erinnerungsfragmenten auf unterschiedlichen Repräsentationsebenen und der charakteristischen Spaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsteil als → Traumaschema.

      Festzuhalten als Verdienst dieses Forschers bleibt eine recht differenzierte Theorie über Traumatisierung und Gedächtnisstörungen, Reinszenierung des Traumas im Verhalten und auf unterschiedlichen kognitiven Repräsentationsebenen. Besonders bedeutsam ist Janets Konzept einer Dissoziation unterschiedlicher Bewusstseinszustände, die in extremen Fällen zu sich verselbständigenden Teilpersönlichkeiten führen kann. In der psychoanalytischen Theorietradition wurde das Konzept sich verselbständigender Erlebniszustände nur von wenigen Forschern aufgegriffen so etwa von Paul Federn (1952) mit seiner Theorie der „Ich-Zustände“ oder von Mardi Horowitz (1979) in seinem Konzept der „states of mind“, von persönlichkeitstypischen Erlebniszuständen oder Stimmungslagen (vgl. hierzu auch Fischer 1989). Ansonsten hat die Entwicklung der Traumatheorie bei Freud einen etwas anderen Verlauf genommen und andere Akzente gesetzt.

      Die Frage, wie weit zwischen Janet und Freud grundsätzlich vereinbare oder einander ausschließende Traumakonzeptionen vorliegen, ist nicht leicht zu entscheiden. Fest steht jedenfalls, dass Freud unterschiedliche Akzente setzte. Auch in Freuds frühen Werken findet sich der Begriff Dissoziation. Freud führte aber bald das Konzept der Abwehr ein, als deren Prototyp die Verdrängung gelten kann. Dabei handelt es sich um ein motiviertes, absichtsvolles Vergessen. Traumatische Erfahrungen werden also demzufolge nicht nur deshalb dissoziiert, weil das Bewusstsein momentan mit ihrer Verarbeitung überfordert wäre. Vielmehr werden sie vom Bewusstsein aktiv ferngehalten, weil ihre Integration die Persönlichkeit mit unangenehmen oder gar unerträglichen Affekten überlasten würde.

      In seiner Beschäftigung mit dem psychischen Trauma hat Freud sehr unterschiedliche Epochen durchlaufen. In einer frühen Phase, wie sie sich z. B. in den Studien zur Hysterie (1875) widerspiegelt, war er davon überzeugt, dass eine reale traumatische Erfahrung, insbesondere sexuelle Verführung von Kindern, jeder späteren hysterischen Störung zugrundeliege. In einer späteren Forschungsperiode (etwa ab 1905) relativierte er diese Auffassung. Mit der Erforschung des kindlichen Sexuallebens arbeitete Freud die Rolle kindlicher Triebwünsche und Phantasiebildungen bei der Entstehung neurotischer Störungen heraus. An einer realen Verführung als möglicher Ursache späterer Störungen hielt Freud allerdings weiterhin fest: „...ich kann nicht zugestehen, dass ich in meiner Abhandlung 1896 „Über die Ätiologie der Hysterie“ die Häufigkeit oder die Bedeutung derselben überschätzt habe, wenngleich ich damals noch nicht wusste, dass normal gebliebene Individuen in ihren Kinderjahren die nämlichen Erlebnisse gehabt haben können, und darum die Verführung höher wertete als die in der sexuellen Konstitution und Entwicklung gegebenen Faktoren“ (Freud 1905d, 91).

      Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie weit Freud in seiner frühen Forschung zur Entstehungsgeschichte der Hysterie einer einseitigen Stichprobenauswahl zum Opfer gefallen war. Unter seinen Patientinnen, die in den Studien zur Hysterie erwähnt sind, befand sich möglicherweise eine überhöhte Quote mit realen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Freuds Schlussfolgerung, dass hysterischen Störungen in jedem Falle sexuelle Verführung zugrunde liegen müsse, war forschungslogisch und empirisch tatsächlich nicht haltbar. Heute wissen wir, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit zwar auch zu einer hysterischen Störung führen kann, ebenso gut aber auch zu anderen Bildern wie dem Borderline-Syndrom oder dissoziativen Störungen (vgl. Kap. 9.4.6) Auch in der „follow-back“-Perspektive hat eine neurotische Störung, eine hysterische Neurose keineswegs immer psychotraumatische Ursachen. Unterschiedliche biologische und sozialisatorische Einflüsse können eine neurotische Entwicklung einleiten, darunter etwa auch die Verwöhnung von Kindern durch überfürsorgliche Erwachsene. Zudem können sehr unterschiedliche kindliche Traumen später zu einem ähnlichen Störungsbild führen. Ein Deprivationstrauma kann ein depressives, narzisstisches, aber auch hysterisches Störungsbild nach sich ziehen, abhängig wohl vor allem von unterschiedlichen Konstellationen der traumatischen Situation. Nach Kriterien der psychotraumatologischen Forschungslogik hatte Freud gute Gründe, seine erste, pauschal verallgemeinernde Theorie von der Ätiologie der Hysterie zu revidieren.

      Daraus ist gegen Freud wiederholt der Vorwurf abgeleitet worden, er habe die Verführungstheorie aufgegeben, um der sozialen Ächtung zu entgehen, die mit seiner frühen Entdeckung verbunden war (etwa Masson 1984b). Zweifellos hatte Freud an ein Tabu gerührt, wie so oft bei psychotraumatologischen Forschungsthemen. Freud berichtet von einem Vortragsabend im „Psychiatrischen Verein“ Wien. Dort hatte er seine Thesen zur Ätiologie der Hysterie vorgetragen. Die Reaktion der Kollegen schildert er in einem Brief an seinen Freund Fließ folgendermaßen:

      „Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing (dem Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik) die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili, aufgezeigt hat!“ (aus den Briefen an Fließ, Freud 1962).

      Freud fuhr fort, wie wir aus der erweiterten Ausgabe der Briefe an Fließ inzwischen wissen: „Sie können mich alle Gernhaben“. Er war also keineswegs gewillt, die neue Entdeckung dem gängigen Vorurteil zu opfern. Auch hat er sie später nicht pauschal als irrtümlich bezeichnet. Der Nachweis zwischen traumatischer Kindheitserfahrung und späterer Pathologie wurde in den Studien zur Hysterie sorgfältig geführt. Wir können diese Schrift auch heute noch als einen differenzierten Beitrag zur Erforschung traumatischer Prozesse nach sexuellem Kindesmissbrauch lesen. Vorbildlich sind sie in ihrer Rekonstruktion des komplexen Zusammenhangs zwischen traumatischer Situation, Reaktion und Prozess, der einer ebenso differenzierten qualitativen Methodik bedarf, wie Freud sie damals in Ansätzen entwickelt hatte.

      In seinen späteren Arbeiten hat sich Freud stärker der Erforschung des Innenlebens zugewandt als zur Zeit der „Studien“, so z. B. in den „drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905d), in denen er die Phasen der → psychosexuellen Entwicklung erforschte. Der Vorwurf, er habe mit der Hinwendung zu den Sexualphantasien der Kinder und ihrer eigenen sexuellen Neugierde und Aktivität die Verführungstheorie außer Kraft gesetzt oder „verraten“, scheint wenig überzeugend. Kinder haben ein eigenes erotisches und sexuelles Phantasieleben, das durch aktive Sexualisierung, wie sie zur pathogenen Dynamik bei sexuellem Kindesmissbrauch gehört (vgl. Abschnitt 9.4) traumatisch gestört wird. Die Überfremdung und Ausbeutung der kindlichen Spontaneität durch die Erwachsenen bildet hier, wie oft beim kindlichen Beziehungstrauma, ein → zentrales traumatisches Situationsthema und den Punkt → maximaler Interferenz von Subjekt und traumatogenen Situationsfaktoren. Wir verdanken Freud die Einsicht in die kindliche Erlebniswelt, ein Bild vom Kind als unverzagtem kleinem „Sexualforscher“, das mit seiner Intelligenz und Neugierde den Desorientierungsversuchen der Erwachsenen, den Geschichten vom Klapperstorch usf. hartnäckig widersteht. Kinder haben eigene sexuelle Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien. Das macht sie besonders verletzlich gegenüber missbräuchlichem Verhalten, das den Entwicklungsaspekt dieser Bedürfnisse übergeht und sie den egoistischen Interessen der Erwachsenen unterwirft. Freud vorzuhalten, er habe den Kindesmissbrauch bagatellisiert oder womöglich noch gerechtfertigt, weil er das sexuelle Eigenleben des Kindes zum Gegenstand der psychoanalytischen Forschung machte, entspricht jener kognitiven Konfusion, die oft ein Ausdruck der grenzlabilen Missbrauchsdynamik ist und zusammen mit den übrigen traumatogenen Faktoren (vgl. Abschnitt 9.4.3) wie Verrat, Stigmatisierung und Misshandlung leider oft auch die wissenschaftliche Diskussion bei traumatologischen Tabuthemen bestimmt bzw. ersetzt.

      So weit psychoanalysekritische Argumente sich auf diesem Niveau bewegen,

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