Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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ersetzbar. Methodisch sollte die objektive Situationsanalyse zeitlich vor der subjektiven erfolgen. Hier fragen wir nach objektiven, potenziell traumatischen Situationsfaktoren. Bei Desastern menschlichen Ursprungs und den oft über lange Zeit sich hinziehenden Beziehungstraumen muss die objektive Situationsanalyse vor allem nach solchen Strukturen und Beziehungsformen suchen, die den offenen Horizont der Situation eliminieren und geschlossene Situationen schaffen. Bei Gewaltverbrechen ist die Ausweglosigkeit offensichtlich gegeben. Bei Beziehungstraumen, etwa vom Typus des → Double-Bind ist dieses Kriterium weniger offensichtlich. Dennoch lassen sich bei eingehender Untersuchung die kommunikativen Mittel rekonstruieren, die eine analoge Auswegslosigkeit erzielen, indem z. B. → Metakommunikation verhindert, Einflussnahme verschleiert wird usf.

      Ein häufig eingesetztes Mittel, um eine künstliche Schließung der Situation zu erreichen, ist die Verwirrung kognitiver Kategorien. Wir wollen diesen Mechanismus als → Orientierungstrauma bezeichnen (vgl. Abschnitt 3.1.1). Klassisches Beispiel ist das Double-Bind. Die Verwirrung kognitiver Kategorien im Double-Bind ist bei Fischer (1986a) genauer analysiert im Hinblick auf die Entstehung von Charakterstörungen und selbstschädigendem, parasuizidalem Verhalten. Die → Double-Bind-Situation bildet einen Prototyp des Orientierungstraumas, nicht aber seine einzige Form. In manchen Familien sind Beziehungsmuster mit ihren über Generationen hinweg tradierten Scripts und deren situativer Reinszenierung so verwirrend, dass den Opfern solcher Beziehungsfallen kaum noch wirksame Handlungsmöglichkeiten bleiben. Ziel der objektiven Situationsanalyse ist es hier, die Situationsstrukturen herauszuarbeiten, das zentrale Thema der Situation, die situativen Gegebenheiten, situations- und kulturgesteuerte Scripts, die Kontextbedingungen usf.

      Dieser objektiven Untersuchungsrichtung steht die subjektive Situationsanalyse gegenüber. Hier ist zunächst darauf zu achten, welche der objektiv vorhandenen Reaktionsmöglichkeiten ein Individuum tatsächlich wahrnimmt. Von dem Hintergrund der objektiven Situationsstrukturen heben sich jene subjektiven Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen ab, mit denen das Subjekt versucht, die potenziell traumatische Situation zu überschreiten. Ergänzen wir hier die objektive Situations- und Script-Analyse durch die subjektive Untersuchungsrichtung, so nähern wir uns dem zentralen Untersuchungsgegenstand, dem Verständnis nämlich für das Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Komponenten der traumatischen Situation.

      Als Hilfsmittel bieten sich Konzepte an, die wir als Vermittlungsgrößen zwischen dem objektiven und dem subjektiven Moment kennen gelernt haben, wie beispielsweise das „Thema“. Es kann jetzt in seiner objektiven und subjektiven Bedeutung genauer untersucht werden. Nehmen wir das Fallbeispiel des Autofahrers aus Abschnitt 1.4, der durch ein besonders geschicktes Ausweichmanöver einen tödlichen Unfall vermeiden kann, jedoch noch lange nach dem Unfall unter den psychischen Folgen der Traumatisierung leidet. Die traumatogene Situation ist thematisch zunächst dadurch bestimmt, dass Herr R. sich auf einer ganz alltäglichen Autofahrt befindet, um einen seiner Kunden zu besuchen und ihn zu beraten. Mit einer Behinderung in diesem gewohnten Tagesablauf rechnet er nicht. Wie aus dem Nichts kommt durch das Fehlverhalten eines Verkehrsteilnehmers die Todesdrohung auf ihn zu. Wir haben den konkreten Ablauf der Ereignisse ausführlich geschildert. Welches nun sind die für die Traumaverarbeitung entscheidenden Situationselemente? Von der objektiven Seite her mag eine Rolle spielen, dass der Unfallverursacher sich in Panik befand und unfähig war, einem Zusammenstoß auszuweichen, sich hinterher jedoch seinem Retter gegenüber anscheinend in keiner Weise dankbar oder auch nur konziliant verhielt. Beim zeitlichen Verlauf der traumatischen Situation berücksichtigt werden muss auch die mangelnde soziale Anerkennung durch die mit dem Unfall befassten Instanzen, wie beispielsweise die Versicherung des Unfallverursachers.

      Wir werden in einem späteren Kapitel das Trauma als eine systematische Diskrepanz zwischen subjektiven und objektiven Situationskomponenten definieren. Hier können wir vorwegnehmen, dass diese Diskrepanz sich in der Interferenz von objektivem und subjektivem Situationsthema am deutlichsten zeigt. Das subjektive Situationsthema ist u. a. dadurch bestimmt, dass Herr R. sich ohne eigenes Zutun und außerhalb seiner Kontrollmöglichkeiten einer Lebensbedrohung ausgesetzt sieht. Er sieht in den kritischen Sekundenbruchteilen seinen Lebensfilm vor Augen, was die Vermutung nahe legt, dass er sich innerlich bereits auf das Lebensende vorbereitete. Vielleicht lag die Möglichkeit des Sterbens seinem bisherigen, sehr aktiven Lebenskonzept besonders fern, was das Diskrepanzerlebnis in der tödlichen Bedrohung noch weiter verschärft haben mag.

      Das objektive „Script“, das Drehbuch sozialtypischer Abläufe nach einem lebensbedrohlichen Verkehrsunfall, das die gegenseitige Erwartung der Beteiligten regelt, erfordert den Ausgleich mit dem Unfallgegner, vielleicht die Anerkenntnis von Schuld, primär wohl persönlich-zwischenmenschlich, nicht in erster Linie bestimmt von Versicherungen und deren besonderer Interessenlage. Herr R. erwartet sicherlich mit einiger Berechtigung eine solche Regelung. Sie findet weder persönlich statt noch institutionell. So erlebt er ein scharfes Missverhältnis zwischen den objektiven Situationsfaktoren und seinen persönlichen Erwartungen. Dieses Ergebnis einer Interferenz von objektiven Situationsfaktoren und subjektiven Erwartungen be-zeichnen wir als das „zentrale traumatische Situationsthema“ (ZTST). In diesem Themenkomplex greifen beide Faktorengruppen so ineinander, dass es zu einer → maximalen Interferenz zwischen subjektiven (schematisierten) Erwartungen und objektiven Gegebenheiten kommt, bildlich gesprochen zu einer Blockierung der psychischen Informationsverarbeitung oder auch zu einem Bruch von Strukturen des psychischen Netzwerks.

      Das ZTST muss nun zum einen aktualgenetisch, aus dem momentanen Situationsverlauf heraus, erfasst werden, zum anderen in seiner lebensgeschichtlichen Bedeutung und Genese. Aktualgenetisch könnte es bei dem Unfallpatienten etwa so umschrieben werden: „Ich wurde unvorbereitet, durch fremdes Verschulden und ohne eigenes Zutun, aus einem sehr aktiven Leben heraus mit dem Tod konfrontiert. Es gab keine (genügende) Hilfestellung bei meiner inneren Auseinandersetzung mit dem Geschehen. Alle Bemühungen, mein bisher aktives und selbstbestimmtes Leben fortzuführen, scheitern an meiner Krankheit und der Verweigerung von Hilfe“.

      Verfolgen wir das ZTST in der lebensgeschichtlichen Richtung weiter, so stoßen wir auf die Kindheitserinnerung an eine Bombennacht während des zweiten Weltkriegs, als Herr M. mit seiner Mutter vor dem Angriff zu fliehen versuchte und dabei auf brennende Häuser, Verwundete und Tote stieß. Auch im „Lebensfilm“ waren die Kriegsszenen an erster Stelle aufgetaucht. Vieles spricht dafür, dass Herr M. mit seinem besonders aktiven Lebensstil bemüht war, dieser früh erfahrenen Unsicherheit und Bedrohung des Lebens seine energische Fürsorge für das materielle Wohl und die Sicherheit der Familie entgegenzusetzen. Genau dieser kompensatorische Lebensentwurf wird durch den Unfall außer Kraft gesetzt. Seine berufliche Tätigkeit, die Sicherheit und Schutz garantieren soll, wird zum Instrument eines grausamen „Schicksals“, das ihn mit einem Schlag in die frühe → Hilflosigkeit und Todesgefahr zurückwirft. Die beruflich bedingte Autofahrt, welche Wohlstand und Sicherheit weiter festigen und so vor der früh erlebten Not des Krieges schützen soll, wird ihrerseits zum Vehikel einer existenziellen Bedrohung. Hier „verhakt“ sich also das auf kompensatorische Sicherheit ausgerichtete „Lebensthema“ in fataler Weise mit dem gegenwärtigen Situationserleben. Das ZTST entspricht diesem Punkt einer maximalen Interferenz von subjektiven und objektiven Situationsfaktoren. Besonders zerstörerisch wirkt es sich aus, wenn durch die oft zufällige situative Konstellation das Subjekt in seinen zentralen kompensatorischen Bemühungen und/oder seinem Weltentwurf getroffen wird. Da diese kompensatorischen Mechanismen oft schon aufgebaut wurden, um früheren (potenziell) traumatischen Situationen zu begegnen, lebt mit dem Bruch des → traumakompensatorischen Schemas und der neuen Bedrohung zugleich die alte Bedrohung wieder auf. In lebensgeschichtlicher Betrachtung bildet das ZTST einen dynamischen Kristallisationspunkt, in dem sich vergangene und gegenwärtige traumatische Erfahrungen verbinden und bisweilen unheilvoll potenzieren können. Die lebensgeschichtliche Kontinuität lässt sich oft auch in der subjektiven Traumaerfahrung feststellen, im Informationsvorrat des → Traumaschemas. So wird im „Lebensfilm“ sogleich die Verbindung zwischen der frühen und der jetzigen Traumaerfahrung hergestellt mit der Erinnerung an die Bombennacht. Das frühe → Schema „assimiliert“ die gegenwärtige Erfahrung, was dem aktuellen Geschehen

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