Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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Situationen enden nicht nach der objektiven Zeit und nicht per se schon dann, wenn das traumatische Ereignis vorüber ist. Unter subjektiven und inter-subjektiven Gesichtspunkten enden sie, vor allem wenn sie von Menschen verursacht werden erst dann, wenn die zerstörte zwischenmenschliche und ethische Beziehung durch Anerkennung von Verursachung und Schuld wiederhergestellt wurde. Exemplarische Situationen enden nicht einfach, wenn Zeit vergeht. Daher heilt Zeit allein nicht alle Wunden. Vielmehr muss eine qualitativ veränderte Situation entstehen, die die traumatischen Bedingungen in sich „aufhebt“, d. h. sie überwindet und einen qualitativ neuen Anfang erlaubt. Bei dieser Auflösung und Überwindung von traumatischen Situationen sind Schuldanerkennung, Wiedergutmachung, aber auch Fragen von Sühne und Strafe von Bedeutung.

      2.2 Der Riss zwischen Individuum und Umwelt: Peritraumatische Erfahrung im Modell des „Situationskreises“

      Extrembelastungen und seelische Verletzung betreffen das menschliche Weltverhältnis in seiner psychophysischen und psychosozialen Gesamtheit. Wir hatten uns in Abschnitt 1.2 mit der Analogie zwischen körperlichen und seelischen Verletzungen befasst und zum Verständnis ein hierarchisches Modell der physisch-psychosozialen Systemebenen herangezogen (vgl. das Modell der Systemhierarchie, Abb. 2). Das Modell sieht so genannte Aufwärts- und Abwärtseffekte vor. Körperliche Verletzungen haben psychische Auswirkungen und seelische Verletzungen können körperliche Folgen nach sich ziehen. Wir werden uns im Folgenden mit einem Modell befassen, das uns das Zusammenspiel der Systemebenen verständlicher machen kann. Es wurde in seinen Grundzügen in der Biologie entwickelt von Jakob von Uexküll, um die Orientierung der Tiere in ihrer Lebenswelt, gewissermaßen deren Welt- und Situationsverständnis nachvollziehbar zu machen. Thure von Uexküll hat es zu einem Modell der Humanmedizin weiterentwickelt, um Krankheitsverläufe integrativ auf den unterschiedlichen Ebenen psychosozialer und somatischer Phänomene studieren zu können. Er nannte dieses integrierende Konzept vom Zusammenspiel des Menschen mit seiner Umwelt das Modell vom „Situationskreis“. Zusammen mit Wesiack hat von Uexküll dieses Modell fortlaufend weiter ausdifferenziert und für unterschiedliche biologische und psychosoziale Fragestellungen fruchtbar gemacht.

      An unsere bisherigen Bemühungen um ein integratives, „synthetisches“ Verständnis der traumatischen Erfahrung schließt dieses Modell auch insofern an, als es ebenfalls mit dem Situationsbegriff arbeitet, der im vorigen Abschnitt als heuristischer Bezugsrahmen für die Traumaanalyse eingeführt wurde. Der Situationsbegriff verpflichtet bei v. Uexküll ebenso wie im phänomenologischen Ansatz zur systematischen Verbindung von Innen- und Außenbetrachtung, von Erleben und Verhalten. Auch biologische Funktionen lassen sich im Modell des Situationskreises (Abb.3) aus der Innenperspektive verstehen. So leistet das Modell einen Beitrag zu einer „subjektiven Biologie“ bzw. „Biologie des Subjekts“, als deren Pionier in Deutschland Jakob von Uexküll genannt werden kann.

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      Erklärung: Individuum und Umgebungsfaktoren sind zirkulär aufeinander bezogen. Ihre Verbindung wird symbolisiert durch die beiden Teilkreise, von denen der obere die rezeptorische Sphäre, die verschiedenen Sinneswahrnehmungen repräsentiert, der untere die effektorische Sphäre des Organismus, also Handlungen und Handlungsdispositionen.

      Jakob von Uexküll hatte die beiden Teilsphären als Merk- und Wirkwelt der Organismen unterschieden. Merk- und Wirkwelt sind durch die organische Ausstattung der Lebewesen vorstrukturiert. Die rezeptorische Sphäre reagiert auf eine bestimmte Problemsituation in der Umgebung. Der Organismus bzw. das Individuum entwickelt eine Lösungsstrategie, die über die effektorische Sphäre günstigenfalls die Ausgangslage erfolgreich verändert, so dass der Kreis zwischen Merken und Wirken geschlossen und die Harmonie, eine wie v. Uexküll und Wesiack schreiben, Beziehung der Synthesis zwischen Organismus bzw. Individuum und Umwelt wieder hergestellt ist.

      Im Inneren des Zirkels ist nun eine „kognitive“ Sequenz der Bedeutungszuschreibung eingetragen, in der sich tierisches und menschliches Verhalten von einander unterscheiden. Gemeinsam ist zunächst, dass sowohl Tiere wie Menschen aufgrund von „Bedeutungen“ handeln, die sie ihrer Umgebung zuschreiben. Die Bedeutungszuschreibung oder Bedeutungserteilung verwandelt Umgebung in Umwelt (Lagebestimmungen in situative Gegebenheiten, um an den phänomenologischen Situationsbegriff anzuknüpfen). Durch gelingende Bedeutungserteilung sind die Lebewesen zu effektivem Handeln in der Lage. Beim Menschen hat sich diese → semiotische Zwischensphäre des Umgangs mit Bedeutungen komplex ausdifferenziert. Durch „Probehandeln“ (Freud) im Denken, Durchspielen von Plänen und Handlungsresultaten in der Phantasie hat sich der menschliche Weltbezug im Vergleich zum tierischen vom → „Funktionskreis“ zum „Situationskreis“ erweitert. Während die Tiere mit ihrer Umgebung in einer funktionalen (im Sinne der „funktionalen Norm“), teilweise reflexgesteuerten Verbindung stehen – so wie auch der menschliche Organismus auf der Ebene des vegetativen und animalischen Nervensystems – haben die Fähigkeiten des Menschen im Gebrauch von Zeichen und Symbolen, insbesondere sein Umgang mit Sprache oder sprachähnlichen Zeichensystemen zur Öffnung des Funktionskreises geführt und zu seiner Verwandlung in die vergleichsweise reaktionsoffene Umweltbeziehung des Situationskreises. Die → semiotisch-kognitiven Möglichkeiten verschaffen auch der Individualisierung des Menschen einen größeren Raum. Prozesse der Bedeutungsverarbeitung und -zuschreibung sind stärker als bei den Tieren durch die persönliche Lebensgeschichte und deren individuelle Verarbeitung bestimmt. Wer z. B. Krankheitssymptome oder symptomatische Verhaltensweisen aus der Innenperspektive, dem Situationsverständnis des Patienten heraus verstehen will, muss sich empathisch mit dessen individueller Wirklichkeitskonstruktion befassen, die nur aus seiner besonderen Lebensgeschichte verständlich wird.

      Rezeptorische und effektorische Sphäre sind antizipatorisch aufeinander abgestimmt. Die Situationswahrnehmung wird strukturiert durch antizipierte Handlungsmöglichkeiten. Sensorische Rezeption oder Wahrnehmung besteht also nicht in „passiver Reizaufnahme“. Sie ist vielmehr aktiv auswählend und insofern bedeutungserteilend. Die Wahrnehmung ist ihrerseits motiviert durch einen Mangelzustand, der das Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt vorübergehend stört, so dass eine Problemsituation entsteht. Die semiotische Zwischensphäre von Bedeutungsunterstellung, -erprobung und -erteilung ermöglicht beim Menschen ein intelligentes problemlösendes Handeln, das den Gleichgewichtszustand zwischen Individuum und Umwelt wieder herstellt.

      Harmonie oder Synthesis von Organismus und Umwelt wird gewährleistet durch interne Regulationssysteme, die wir mit Piaget als „Schemata“ bezeichnen können. Schemata unterliegen Piaget zufolge einem Regulationsprinzip mit zwei verschiedenen Funktionen, dem Assimilations- und Akkommodationsvorgang. Ist keine Problemsituation vorhanden, so ist das → Schema aktiv, indem es sich die Umgebungskonstellation assimiliert (= sich angleicht oder „anähnelt“), d. h., sie in „Umwelt“ verwandelt. In diesem Falle setzt die Umgebung der Reproduktion des Schemas keinen Widerstand

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