Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

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Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer

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Bedingungen des Traumas angeht, ungewöhnlich klar sind, bedarf die pathogenetische Frage eingehender Untersuchungen und begrifflicher Klärung. Aussichtsreich erscheint hier ein Mehr-Ebenen-Zugang nach dem Modell der „Hierarchie von Systemebenen“ (Abb. 2). Trauma kann vorwiegend oder auch ausschließlich auf der physiko-chemischen, der biologischen oder der psychosozialen Ebene verstanden werden. Ist vorzugsweise eine einzelne Ebene angesprochen, so sind die „Aufwärts- und Abwärtseffekte“ zu berücksichtigen. Unsere oben vorgeschlagene Definition spricht verschiedene pathogenetische Momente an, die sich unterschiedlichen Ebenen zuordnen lassen. Das Moment der Hilflosigkeit ist eine phänomenale Beschreibung des Taumaerlebens auf der psychologischen Ebene. In Seligmans Theorie der „erlernten Hilflosigkeit“ wurde dieses Konzept ausgearbeitet, allerdings nur mit Bezug auf Depression als eine der häufigsten Folgeerscheinungen. Das Stichwort „Trauma“ taucht seltsamerweise bei Seligman noch nicht einmal im Sachregister auf. Allerdings erwähnt Seligman verschiedene „Abwärtseffekte“ erlernter Hilflosigkeit wie den plötzlichen Tod im Zustand vollkommener Hilflosigkeit, der bei einigen KZ-Opfern zu beobachten war (Kap. 6). Wir gehen im Abschnitt 3.1.2 auf diese vor allem im Tierexperiment gewonnenen Befunde näher ein.

      Das pathogenetische Moment der schutzlosen Preisgabe an bedrohliche Umweltfaktoren entspricht einem extremen Kontrollverlust in der traumatischen Situation. Seine Folgen und auch die Prinzipien, nach denen Traumaopfer ihr Kontrollbewusstsein wiedererlangen können, lassen sich nach der Kontrolltheorie von Rotter (1966) und anderen Autoren näher untersuchen.

      Trauma als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten zu beschreiben, ist ein relationaler Definitonsversuch, der zuvor auch als „ökologisch-dialektisch“ gekennzeichnet wurde. Diese Relation impliziert einen quantitativen und einen qualitativen Gesichtspunkt. Je stärker die traumatischen Situationsfaktoren, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum über hinreichend Ressourcen verfügt, um die Erfahrung bewältigen zu können. Bei Extremtraumatisierung durch Folter oder andere Situationen fortwährender Lebensbedrohung dürfte so gut wie kein Mensch der psychischen Traumatisierung entgehen. Das qualitative Moment der Subjekt-Umwelt-Relation versuchen wir durch ein Konzept wie das → ZTST näher zu erfassen. Das kritische pathogenetische Moment besteht hier weniger in der objektiven Intensität der traumatischen Faktoren als in deren qualitativer Eigenheit, die sich entweder an ein schon bestehendes → Traumaschema anschließt oder zentrale Momente eines Lebensentwurfes oder auch erworbene traumakompensatorische Strategien jäh in Frage stellt. Ein vital bedeutsames Diskrepanzerlebnis liegt vor, wenn Bedeutungen oder „Bedeutungszuschreibungen“ von direkter oder mittelbarer biologischer Relevanz betroffen sind. Das ist bei lebensbedrohlichen Erlebnissen der Fall. Dazu gehört aber sicher auch ein Orientierungsbedürfnis, das wir wegen seiner basalen Bedeutung für das Überleben ebenfalls zu den biologisch verankerten „Trieben“ rechnen dürfen. Kaus (1995) schlägt eine entsprechende Erweiterung des psychoanalytischen Triebkonzeptes vor. Ein → Orientierungstrauma tritt ein, wenn dieses vitale Triebbedürfnis auf systematische und subjektiv ausweglose Diskrepanzen trifft, wie beispielsweise in → Double-bind-Situationen. Auch das → Beziehungstrauma beruht auf Paradoxien und Diskrepanzen im menschlichen Bindungssystem, welches ebenfalls erbgenetisch-biologisch verankert ist. Die menschliche Sexualität schließlich entwickelt sich in einem komplexen Spannungsfeld biologischer und sozialer Faktoren, was sie für traumatische Einflüsse besonders empfindlich macht.

      Ein übergreifendes pathogenetisches Moment des Traumas aus der Sicht dieser Traumadefinition ist die dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Mit dieser absichtlich weit gefassten Formulierung wollen wir zum einen den Verlust von Selbstvertrauen ansprechen, den viele Traumaopfer beklagen, zum anderen den Vertrauensverlust in die soziale oder pragmatische Realität, der sich als Traumafolge einstellt. Die Erschütterung kann mehr oder weniger umfassend sein. In radikalen Erfahrungen dehnt sie sich aus auf das Realitätsprinzip als solches, das Korrelat der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.

      Ronnie Janoff-Bulman hat in ihrer Arbeit „Shattered Assumptions“ (1992) diesen Aspekt der Traumaerfahrung eindrucksvoll dargestellt. Wir alle hegen bestimmte Grundannahmen, die sich bei kritischer Betrachtung als illusionär herausstellen, welche für uns aber gleichwohl lebensnotwendig sind. So zum Beispiel die „illusionäre“ Überzeugung, dass der Tod noch relativ fern ist und dass wir beispielsweise die nächste Stadtfahrt mit dem Auto überleben werden. Durch ein Erlebnis von → Todesnähe etwa werden wir in einer Weise „desillusioniert“, die man als übermäßig und insofern „dysfunktional“ bezeichnen kann. Ein gewisses Maß an Illusion scheinen wir zur Bewältigung unseres Alltagslebens zu benötigen. Übermäßiger Illusionsverlust hingegen führt zu jener Hoffnungslosigkeit und dem Verlust der Zukunftsperspektive, unter der viele Traumaopfer leiden. Nicht immer ist die Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses so radikal wie infolge der Todesdrohung. Manche Grundannahmen oder „Grundillusionen“ sind umgrenzt. So erschüttern „natürliche“ Katastrophen tendenziell Annahmen des → pragmatischen Realitätsprinzips, nämlich unsere sicherlich illusionäre Überzeugung, dass die Kräfte der Natur und der Technik prinzipiell beherrschbar seien. Beziehungs- und Orientierungstraumata sowie vom Menschen verursachte Desaster erschüttern hingegen Annahmen des kommunikativen Realitätsprinzips und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der sozialen Welt. Besonders beim Menschen haben negative soziale Erfahrungen oft auch negative biologische Auswirkungen im Sinne eines „Abwärtseffekts“ im Mehr-Ebenen-Modell vom Aufbau der Wirklichkeit.

      Von besonderem Interesse für die Fortentwicklung der Psychotraumtologie als Wissenschaft sind pathogenetische Konzepte, die geeignet sind, Übergänge zwischen den Ebenen des Modells verständlich zu machen. Ein weiteres Desiderat sind Konzepte, die zwei oder mehrere Ebenen „übergreifen“ und eine integrierende Verständnisbasis bereitstellen, ohne dabei notwendigerweise „reduktionistisch“ zu verfahren.

      Von besonderer Bedeutung sind hier wie auch sonst in den Wissenschaften die Begriffe Energie und Information. Bekanntlich hat Freud für viele seiner Konzepte den Energiebegriff, teils metaphorisch, teils buchstäblich herangezogen, so auch beim Trauma, das er gelegentlich als Reizüberflutung mit unphysiologischen Energien umschreibt. Trauma lässt sich nach Freud schlagwortartig auch als „Energietrauma“ beschreiben: der psychische Apparat ist außerstande, die anflutenden traumatischen Reizenergien durch Gegenbesetzung zu „binden“. Zudem verwandte Freud wiederholt eine biologische Metapher zur Kennzeichnung der psychischen Traumatisierung, die vom „lebenden Bläschen“, dessen Schutzhülle durch anflutende unphysiologische Außenreize einen Einbruch erfährt (1920, Jenseits des Lustprinzips).

      Lindy (1993) hat diese Metapher mit seinem ebenfalls der biologischen Ebene entnommenen Bild der „Traumamembran“ weiter ausgearbeitet. Die biologische Funktion einer Membran besteht darin, aus der Umgebung Nährstoffe ins Zellinnere einzulassen und Schadstoffe abzuweisen oder auszuscheiden. Das wird erreicht durch Durchlässigkeit der Membran, die den selektiven Transport von Molekülen erlaubt. Wird die Membran nun verletzt, so verliert sie ihre selektive Kapazität. Schadstoffe können von Nährstoffen nicht länger unterschieden werden und dringen ins Zellinnere ungehindert ein. Nährstoffe werden wieder ausgeschieden. Die geschädigte Membran verliert nicht nur ihre Reizschutz-Funktion, sondern erleidet eine Funktionsumkehr. Die → Traumatherapie muss in diesem Bild also nicht nur eine Barriere nach außen hin wieder aufrichten, um das Zellinnere bzw. den Binnenraum des Selbst zu schützen. Das Bild von der Traumamembran erfordert vielmehr, dass der Therapeut die Selektionsfähigkeit des Selbst unterstützt, die Fähigkeit zwischen schädlichen und nützlichen Umweltreizen zu unterscheiden. Fast unmerklich hat sich die Freudsche Metapher bei Lindy von der Energie zur Information hin verschoben. Denn die Auswahlfunktion der Zelle beruht auf intakter Analyse der Umwelt und entsprechender Informationsverarbeitung. Eine Störung der Informationsverarbeitung wäre demnach der zentrale pathogenetische Mechanismus des Traumas.

      Diese „Revolution“ des Freudschen Traumakonzepts vom Energie- zum Informationstrauma hat,

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