Die Kunst des richtigen Maßes. Johannes Huber
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Darin liegt unsere Chance, das Beste aus unserem Aufenthalt im Raumschiff Erde zu machen und dabei den eigentlichen Sinn dieses Aufenthalts zu erfüllen: Wenn wir uns darin üben, unser Leben nach diesem aus unserem eigenen Inneren geborenen richtigen Maß auszurichten, sind wir nicht nur körperlich und geistig gesünder, beruflich und privat erfolgreicher und in jeder Hinsicht kreativer, wie dieses Buch zeigen wird. Dann sind wir auch freier, als es uns je möglich erschien. Dann sind wir Teil einer Gemeinschaft, die mehr ist als die Summe ihrer Individuen.
Maßlos zu sein bedeutet, nach dem richtigen Maß nicht einmal zu suchen, als existiere es gar nicht. Als hätte es keinen Belang, weder für uns als Individuen noch für uns als Gemeinschaft. Wenn wir das richtige Maß gar nicht erst suchen, bringen wir uns um unsere Chance auf alles Gute und wirklich Wichtige, das wir auf unserer Reise im Raumschiff Erde bekommen könnten.
Was wir essen, wie wir leben
Dieses Buch gibt Hinweise darauf, wie wir das richtige Maß finden, aber auch darauf, wie wir es halten können. Zum Beispiel, indem wir alte Gewohnheiten ablegen und neue annehmen. Was nie einfach ist, wofür es aber hilfreiche Techniken gibt.
Es zeigt auch bestimmte naturgegebene Rhythmen wie die der Chronobiologie, die unser Leben prägen, ohne dass es uns richtig bewusst ist, und denen wir uns anvertrauen können, wenn wir das richtige Maß halten wollen. Es zeigt, wie wir unsere Kinder lehren können, das richtige Maß für sich zu finden, und wie schon die Antike das in ihrem Bildungssystem berücksichtigte.
Es zeigt, wie wir das richtige Maß in allen Dingen finden müssen, bei naheliegenden wie dem Essen und der Sexualität und bei weniger beachteten wie dem Umgang mit unserem Ego, dem Wechselspiel zwischen Spannung und Entspannung oder im Gebrauch der Sprache und dem technischen Fortschritt. Es zeigt außerdem, warum ein Leben nach dem richtigen Maß Transzendenz erfordert und warum Toleranz und ihre praktischen ebenso wie ihre spirituellen Grundlagen die Basis und der Anfang von allem sind. »The two most important decisions, that animals make, are what to eat and with whom to affiliate.«
So viel vorweg: Bei unserer Suche nach dem richtigen Maß können wir uns zunächst an einen in der Evolution zentralen Grundsatz halten: Die beiden wichtigsten Entscheidungen, die Tiere treffen, sind, was sie zu sich nehmen und mit wem sie sich abgeben.
Das ist bei uns Menschen nicht anders. Was kommt auf den Tisch? Und mit wem sitzen wir dort? Mit wem reproduzieren wir uns? Wem schließen wir uns an und wie organisieren wir uns? Wenn wir auf die Zukunft abzielen, brauchen wir besonders in diesen beiden Uraktivitäten das richtige Maß. Sonst beginnt die Hülle des Raumschiffs Erde zu brechen.
Der bereits zitierte Philosoph Sloterdijk hat das in seinen vier »soziodynamischen Grundsätzen« so zusammengefasst7:
Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum und auch aus gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als in absehbarer Zeit durch Recycling-Prozesse je absorbiert werden können. Es werden in den Körpern der Menschen, vor allem der wohlhabenden Hemisphären, aber jetzt auch in anderen Teilen der Welt, ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungs- und Fitnessprogramme wieder abgebaut werden können. Es werden im Gang der sogenannten Liberalisierung zunehmend mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltungen und Fairnessregeln domestiziert werden können. Es werden durch die Ausstrahlung der Bilder des reichen Lebens weltweit mehr Forderungen an Teilhabe an Gütern und Statussymbolen herbeigerufen, als jemals durch nicht kriminelle Formen der Umverteilung befriedigt werden könnten.
Kurzum, es geht uns »zu gut«.
Wir essen mehr, als wir brauchen. Wir werden dicker und machen weniger Bewegung, als wir sollten. Wir sind hemmungsloser als je zuvor. Gleichzeitig werden Reiche reicher und Arme ärmer und unsere Gesellschaftsform radiert den Mittelstand aus wie einen unpassenden Teil einer Zeichnung.
Das sind nicht gerade die besten Voraussetzungen, um das Raumschiff Erde durch einen Meteoritensturm zu manövrieren. Auf einem der Mutterschiffe des Science-Fiction-Genres, der Enterprise, gäbe es längst roten Alarm. Die Klingonen sind da, die Photonentorpedos sind leer und die Schutzschilde sind unten. Mister Spock, die Kultfigur des Star-Trek-Universums, kratzt sich hinter dem spitzen Ohr. Captain Kirk wird’s schon richten.
Doch wir sind nicht auf der Enterprise. Das Raumschiff Erde hat keinen souveränen Kapitän. Es gibt kein fertiges Drehbuch und kein Produzent reklamiert ein Happy End in jede Folge. Wir trudeln hinein ins Unbekannte. Und sind dort auf uns selbst zurückgeworfen. Auf unsere innere Wahrnehmung, die als einzige den richtigen Weg kennt und die uns als einzige gleichzeitig zu Schöpfern und zu Teilen einer besseren Welt machen kann.
Die Folgen der Maßlosigkeit
Diese Fragen drängen sich auf: Noch nie ist es uns so gut gegangen, aber worauf haben wir uns dafür eingelassen? Das Weltexperiment der Neuzeit, ist es tatsächlich ein globales Gewinnspiel? Haben wir nicht einfach in globaler Einhelligkeit die Maßlosigkeit zum System erhoben? Was bewirkt sie? Der Homo sapiens und sein Bungee-Jump ins Verderben: Hält das Seil oder reißt es? Sind nicht die Explosion des Raumschiffes, der Weltenbrand, das Armageddon die zwangsläufige Folge unseres Handelns und wie konnten wir das bisher einfach ignorieren?
Für die 15- bis 35-Jährigen ist der Klimaschutz das wichtigste ihrer Anliegen.8 Doch da ist noch viel mehr. Invasive Pflanzen- und Tierarten, die unsere Flora und Fauna zerstören. Die maximale Ausbeutung unserer Böden, dank der Milliarden von Menschen nur noch gesundheitsschädliche Lebensmittel bekommen und Zivilisationskrankheiten pandemische Ausmaße annehmen. Das Plastik, das in der Miniversion des Mikroplastiks, dem Nanoplastik, nicht nur in unsere Körper, sondern auch schon in unsere Gehirne vorgedrungen ist. Und das ist noch immer nicht alles.
Der Wissenschaftler Niall Ferguson9 fertigte für die Hoover Institution, einen Think-Tank der Eliteuniversität Stanford, eine Zukunftsperspektive an. Sein Resümee lautet folgendermaßen:
Nach COVID-19 ist wahrscheinlich keine Katastrophe dran, die dem Klimawandel zuzuschreiben wäre, da wir selten die Katastrophe bekommen, die wir erwarten. Vielmehr wird immer irgendeine andere Gefahr schlagend, die den meisten von uns bis dahin entgeht.
Angenommen, das Raumschiff Erde befindet sich auf einem Kollisionskurs, und wir wissen es nicht. Wir haben keine Ahnung. Das Radar zeigt nichts, die Langstreckensensoren geben keine Warnungen ab. Trotzdem ist dort vorne irgendwo ein tonnenschwerer Meteorit.
Um den Kurs zu korrigieren, brauchen wir prognostische Intelligenz. Wir müssen uns einlassen auf das, was geschehen kann, und gleichzeitig vorbeugen, um es zu verhindern. Der Astronaut fährt mit dem Handschuh über das Steuerelement, gibt ein paar Korrekturen ein, und das Raumschiff fliegt auf neuer Bahn. Vorbei an diesem Meteoriten, der durch die seitlichen Fenster des Cockpits zu sehen ist. Das war knapp, denkt er sich und schließt die Augen.
Doch wer ist dieser Astronaut, woher nimmt er seine prognostische Intelligenz und woher weiß er, welche Korrekturen er eingeben muss? Sie ahnen es nach dem bisher Gesagten bereits. Der Astronaut sind Sie. Die Astronauten sind wir alle. Wir alle stehen nach dem scheiternden Weltexperiment der Neuzeit vor dem Weltexperiment des richtigen Maßes.