Die Kunst des richtigen Maßes. Johannes Huber

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Die Kunst des richtigen Maßes - Johannes Huber

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wenn er werden will, was er sein kann? War ihm dieses Wissen in die Wiege gelegt? Und wenn nicht, wovon auszugehen ist, wie entstand es? Das sind spannende und interessante Fragen, auf die es eine ebenso spannende und interessante Antwort gibt, und die hat viel mit der Freimaurerei zu tun.

      Die Geschichtsschreibung kennt einen relativ klar abgrenzbaren Punkt, ab dem das richtige Maß als Mittel und Instrument des Menschen für ein inneres Wachstum zu Höherem Thema wurde. Um diesen Punkt zu erkennen, müssen wir uns zunächst mit dem Bauwesen befassen. Fangen wir mit seiner basalsten Grundlage, der Waagrechten an. Von der Waagrechten aus erhebt sich alles und auf ihr lässt sich alles aufbauen. Die Baumeister der Pyramiden, der Megabauten schlechthin, legten jeweils rund um die Baustelle einen Kanal an, weil sie vom Wasserspiegel ausgehend das richtige Maß eruieren konnten. Die Waagrechte ist das erste Prinzip, das Maurerlehrlinge verstehen müssen.

      Der erste Mega-Bau, der in der europäischen Geistesgeschichte immer wieder Gestalt annimmt, ist der Tempel des König Salomo, des Herrschers des vereinigten Königreiches Israel im 10. Jahrhundert vor Christi Geburt. Dieser Tempel war gleichsam ein Vorläufer der Kathedralen, die mit ihren 100 oder sogar 150 Meter hohen Türmen die Frage aufwerfen, wie sie mit damaligen technischen Mitteln überhaupt zu errichten waren.

      Irgendwann fingen die Freimaurer an, diese Geheimnisse nicht nur für die Architektur von Gotteshäusern, sondern auch für die innere Architektur des Menschen anzuwenden. So, wie sie zunächst auf wundersame Weise dafür sorgten, dass ihre steinernen Werke in den Himmel wuchsen, sorgten sie von da an dafür, dass Menschen wahre Größe erreichen und werden, was Menschen sein können.

      Welche Geheimnisse kannten ihre Baumeister, um ohne jegliches Computerprogramm die Statik genau genug für ihre Kathedralen berechnen zu können? Und wie konnten sie diese Geheimnisse auch für die Befreiung der Seele des Menschen anwenden?

       Der Beitrag der Maurer

      Im Inneren einiger Kathedralen weisen geheimnisvolle Spuren auf die spannende Beziehung zwischen der Architektur sakraler Bauten und der inneren Architektur des Menschen hin. Unvergesslich ist mir in diesem Zusammenhang die frühere Diözesanarchivarin des Wiener Stephansdoms, Dr. Annemarie Fenzl. Ausgewählte Besucher führte sie zur sogenannten Pilgramkanzel im Dom, wo sie ihnen mit einer speziellen UV-Lampe in den Stein gravierte Zeichen zeigte.

      Es war dann zunächst immer eine Art ultraviolette Offenbarung eines Wirkens und Denkens abseits dessen, was wir rational in unsere Betrachtung der Geschichte einordnen können. Sie fasziniert, diese Offenbarung, weil die Botschaft der Symbole ungemein einfach ist und gerade deshalb nach einer tieferen Deutung zu verlangen scheint.

      Drei Gruppen von Menschen haben an der Errichtung des Doms gearbeitet, lautet sie. Lehrlinge, Gesellen und Meister. Sie mussten Gesetze einhalten, damit der Bau auch wirklich hält. Das ist die Grundlage jeder Maurerkunst. Welche tiefere Deutung legt das nahe?

      Unter der Kanzel, geschützt vor den Blicken vorbeiströmender Gläubiger und Touristen, gibt es ein Fenster. Durch dieses Fenster schaut der Meister heraus, der den Dom erbaut hat, Baumeister Anton Pilgram. In seinen Händen hält er Winkelmaß und Zirkel, die Hauptinsignien der Freimaurerei. Warum?

      Hier sind wir genau an jenem Punkt, ab dem das richtige Maß als Mittel und Instrument des Menschen für ein inneres Wachstum zu Höherem Thema wird. Rund um Winkelmaß und Zirkel entstand das große Mysterium der Freimaurerei, das detailliert wie keine andere philosophisch-spirituelle Tradition mit dem richtigen Maß als Herzstück den Weg des Menschen zu dem, was er sein kann, zeigt.

      Womit wir uns auch auf eine tiefere Deutung der geheimnisvollen, im Stein der Pilgram-Kanzel verewigten Symbole festlegen können: Wir müssen die Gesetze des richtigen Maßes einhalten, damit wir werden, was wir sein können. Auf dem Weg dorthin sind wir zunächst Lehrlinge, dann Gesellen und schließlich Meister. Das ist eine der Botschaften der Freimaurerei.

      Die Waagrechte spielt dabei eine entscheidende Rolle. Beschrieben ist sie etwa im Buch Die Legende der Freimaurer von Peter Francis Lobkowicz.22 Der amerikanisch-deutsche Philologe und Freimaurer-Experte schreibt in diesem Zusammenhang von einem Boden im Inneren des Menschen, der bereitet sein muss, damit angehende Freimaurer die durch Bilder und Symbole vermittelten Geheimnisse der Lehre entschlüsseln können. Dieser Boden, auf dem den Freimaurer-Lehrlingen und -Gesellen die Erkenntnis erwächst, ist laut Lobkowicz »das Fundament jeden Verstehens auf dem Weg zum Licht«.

      Menschen, die das Prinzip der Waagrechten nicht erkennen, und Menschen, die diesen Boden in sich nicht erkennen – die einen können keine Dombauer und Maurer werden, die anderen keine echten Freimaurer, sofern wir der Legende Glauben schenken. Ihre diesbezüglichen Vorhaben würden in sich zusammenbrechen wie Kartenhäuser im Wind.

      Das Winkelmaß, ein Werkzeug der Maurer und Baumeister, ist in der Freimaurerei ein Symbol für die Gewissenhaftigkeit im eigentlichen Wortsinn. Am rechten Winkel des Winkelmaßes, also seinem Gewissen folgend, soll der Mensch seine Handlungen ausrichten, nach Recht und Menschlichkeit.

      Der Zirkel steht in der Freimaurerei für den Kreislauf des Lebens. Für die Endlichkeit, und gleichzeitig für die Unendlichkeit. Er steht auch für die Gemeinschaft und damit für die Begrenzung und Überwindung des Egos. Dessen Inszenierung, wie wir sie heute etwa in den Sozialen Medien betreiben, ist aus Sicht der Freimaurerei nichts weiter als eine einzige entsetzliche Peinlichkeit.

      Die Winkelwaage steht in der Freimaurerei dafür, dass alle Dinge und alle Menschen eine gemeinsame Ebene haben, dass es so etwas wie eine dem System Mensch immanente gleiche Augenhöhe als Voraussetzung für Gerechtigkeit, Wachstum und Gottesnähe gibt. Alle Menschen sind frei, alle Menschen sind gleich und alle Menschen sind Brüder, so lautet die Botschaft.

      Ein aufrechter Mensch zu sein, tolerant, mit Werten und einem moralischen Kompass, einer, der sich nicht nach dem Wind dreht, der sich nie biegt und nie knickt und dabei nach Höherem strebt. Darum geht es. Der antike Philosoph Platon, Schüler des Sokrates und einer der einflussreichsten Denker und Schriftsteller der Geistesgeschichte, sprach in diesem Zusammenhang von der »königlichen Kunst, aufrecht zu leben«.

      Mit Standesdünkel hielten sich schon jene, die einst die Kathedralen erbauten, nicht auf. Vielleicht war angesichts der Größe der Aufgabe einfach kein Platz dafür.

      Auch das ist übrigens etwas, das die Elite des Silicon Valley, die heute die Welt von morgen gestaltet, für sich entdeckt hat: »Hierarchien brauchen wir nicht mehr. Chef zu sein ist eine Aufgabe von vielen, gleichwertig mit Programmieren oder Verwalten. Es geht nicht darum, was jemand tut, sondern darum, wie er es tut«, sagt etwa Samuel Koch, Autor des Buches Die Welt, die ihr nicht mehr versteht – Inside digitale Revolution.23

      In der Freimaurerei spielen Standesdünkel erst recht keine Rolle. Wobei es bei der geistesgeschichtlichen Betrachtung der Themen Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einen feinen, aber wesentlichen Unterschied zu jener modernen Doktrin gibt, die alles Menschliche nivellieren will und dabei sogar biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau abzuschaffen trachtet. Diese Nivellierung ist letztendlich eine Pervertierung des eigentlichen Gedankens von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, weil sie das Individuum ignoriert und den Respekt vor seinem Weg verweigert.

      In der Freimaurerei respektiert der Lehrling den Meister. Er strebt danach, zu verstehen, was der Meister schon verstanden hat. Der Meister wiederum respektiert den Lehrling. Er sieht in ihm den Menschen, zu dem er wachsen kann. Beide sind frei. Beide sind gleich. Beide sind Brüder. Aber es gibt einen Unterschied.

       Ein Kardinal als Vermittler zwischen den Welten

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